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Für seine Tränen muss sich niemand schämen
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Für seine Tränen muss sich niemand schämen

Andrea Seeger
Ein Beitrag von Andrea Seeger, Evangelische Theologin
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Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, fließen Tränen. Das hat einen medizinischen Grund: Meine Augen sind zu trocken, deswegen fließt übermäßig Wasser aus den Augen. Das klingt paradox, ist es auch. Vor allem ist es mir peinlich. Die Menschen, denen ich begegne, werden denken: Sie ist traurig.

In biblischen Zeiten gehören Weinen und Tränen ganz selbstverständlich zu Leben

Dabei gibt es sehr viele andere Gründe zu weinen. Schon in biblischen Zeiten gehören das Weinen und die Tränen ganz selbstverständlich zum Leben. Die Menschen vergießen Tränen des Schmerzes und der Trauer, sie weinen aus Reue, weil sie wütend sind oder ohnmächtig. Tränen können lügen. Dann nämlich, wenn sie als Mittel eingesetzt werden, um ein Ziel zu erreichen. Sie können klären, läutern, entkrampfen, lösen. Tränen sind ein Heilmittel gegen kalte Herzen. Oper, Filme, Bücher: Gute Geschichten rühren zu Tränen.

Vor Freude weinen

Und natürlich weinen Menschen auch vor Freude wie Josef im Alten Testament zum Beispiel. Seine Brüder warfen ihn in einen Brunnen, weil sie eifersüchtig waren auf den Lieblingssohn des Vaters. Josef hat Glück im Unglück, wird gerettet und schließlich ein erfolgreicher, mächtiger Mann. Nach vielen Jahren machen sich seine Brüder auf, um ihn wegen einer Hungersnot um Hilfe zu bitten. Josef weint. Das tut er nicht aus Zorn, wie man erwarten könnte. Sondern vor Freude, seine Liebsten wiederzusehen. Das finde ich stark!

Erst im Laufe der Jahre entwickeln Menschen die Fähigkeit, aus positiven Gründen zu weinen

Der junge Josef hätte vermutlich eher aus Schmerz, Frust oder Einsamkeit geweint. Erst im Laufe der Jahre entwickeln Menschen die Fähigkeit, aus positiven Gründen zu weinen. Das passiert zum Beispiel, wenn Erwachsene beobachten, wie jemand selbstlos handelt, einen anderen rettet, auch, wenn er sich selbst dabei in Gefahr bringt. Wer einfühlsam ist, den rührt das Leid von Mitmenschen zu Tränen.

Für Tränen gibt es also mit zunehmendem Alter vielschichtigere Gründe. Mich erleichtert das. Wenn ich morgens tränendes Auges aus dem Haus gehe, muss mir das nicht peinlich sein. Für seine Tränen muss sich niemand schämen.

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