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Ich bin Teil der Lösung - 175 Jahre Demokratie in Deutschland
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Ich bin Teil der Lösung - 175 Jahre Demokratie in Deutschland

Pia Baumann
Ein Beitrag von Pia Baumann, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Vor mir liegt ein Bierdeckel. Knallrot ist er. Draufgedruckt eine Frage. Sie lautet: Bist du Teil eines politischen Problems – oder seiner Lösung? Es gibt noch mehr mit anderen Fragen: sieben Deckel, sieben Farben, sieben Fragen.

Demokratie-Deckel

Demokratie-Deckel steht in einer Ecke. Und da steht noch: Diskutier bei Deinem Drink. Die Deckel liegen in vielen Frankfurter Kneipen, Cafés und Restaurants. Sie sind Teil des Demokratie-Jubiläums an diesem Wochenende. Vor 175 Jahren tagte in Frankfurt das erste frei gewählte deutsche Parlament in der Paulskirche. Die Abgeordneten hatten damals eine freiheitliche Verfassung erarbeitet. Darin stehen grundlegende Rechte der Bürger. Für mich haben diese Rechte viel mit dem christlich-jüdischen Bild des Menschen zu tun.

Die Paulskirche gilt als Wiege der Demokratie in Deutschland

Die Paulskirche gilt als Wiege der Demokratie in Deutschland. Ein Grund zu feiern an diesem Wochenende. Mit Musik, Theater, Vorträgen und einer Lichtinstallation am Abend in Frankfurt. Und den Bierdeckeln, den Demokratie-Deckeln überall, wo Leute was trinken.

Bunte Bierdeckel mit Fragen - Ein Projekt, das Demokratie stärkt und erlebbar macht

Ausgedacht haben sich die Deckel neun junge Erwachsene aus ganz Deutschland. Sie sind zwischen 18 und 30 Jahre alt. Ein Jahr lang hatten sie Zeit, eine Idee zu entwickeln. Ein Projekt, das Demokratie stärkt und erlebbar macht. Herausgekommen sind die bunten Bierdeckel mit ihren Fragen. Sie sollen Menschen ins Gespräch bringen. Die jungen Leute finden, zu einer Demokratie gehört, dass man miteinander spricht. Versucht, sich zu verstehen. Auch wenn man unterschiedlicher Meinung ist. Und am besten redet es sich in entspannter Atmosphäre, mitten im Alltag bei einem Glas Bier, einer Cola oder einem Aperol Spritz. Ganz egal – Hauptsache die Leute quatschen miteinander. Tauschen sich aus. Wenn man sich gegenübersitzt, sich anschaut, dann geht vieles leichter. Gespräche werden offener. Lebendiger. Einfühlsamer. Dann dürfen auch Fragen auf den Tisch, die nicht so einfach zu beantworten sind. Fragen, die provozieren.

So wie die Frage auf meinem roten Bierdeckel. Bin ich Teil eines politischen Problems, oder seine Lösung? Was ist meine Antwort darauf?

Musik

Bin ich Teil eines politischen Problems?

Bin ich Teil eines politischen Problems? Oder bin ich Teil der Lösung? Keine leichte Frage. Ich möchte nicht Teil eines Problems sein. Wer will das schon. Ich glaube nur, das lässt sich manchmal nicht vermeiden.

Die Generation der Baby-Boomer hat gerade das Sagen

Ein Beispiel. Ich zum Beispiel gehöre vom Alter her gerade noch so eben zu den sogenannten Baby-Boomern. Den geburtenstarken Jahrgängen der 50er und 60er Jahre. Wir Boomer sind viele. Wir sind in der Mehrheit gegenüber jüngeren Jahrgängen. Und die Mehrheit hat in einer Demokratie Macht. Die geburtenstarken Jahrgänge bestimmen wesentlich, wie Menschen in unserem Land leben. Wir haben großen Einfluss auf die Politik. Mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestags stammt aus der Boomer-Generation. In den Vorständern der großen deutschen Wirtschaftsunternehmen sieht es nicht anders aus. Meine Generation sagt, was für die Zukunft wichtig ist. In welche Projekte investiert wird. Was hat Vorrang? Seniorengerechte Wohnprojekte, Kindertagesstätten oder Schulen? Klimaschutz oder Wirtschaftswachstum?

Für junge Menschen ist es viel schwieriger, ihre Interessen durchzusetzen. Sie haben weniger Einfluss, weniger Macht, einfach, weil sie eine kleinere Gruppe sind.Ob ich will oder nicht: Ich bin Teil eines politischen Problems.

Auch für Minderheiten soll es fair in einer Demokratie sein und so gerecht wie möglich

Aber ich möchte auch Teil der Lösung sein. Glücklicherweise hat in einer Demokratie die Mehrheit nicht nur Macht. Sie ist auch verantwortlich. Verantwortlich dafür, dass es möglichst allen Menschen im Land gut geht. Egal, woher jemand kommt. Egal, welches Geschlecht ein Mensch hat. Egal, woran er oder sie glaubt. Niemand soll bevorzugt werden, nur weil sie reich oder berühmt ist. Fair soll es sein in einer Demokratie und so gerecht wie möglich. Für alle, auch wenn sie in der Minderheit sind. Und dafür gibt es demokratische Regeln.

Mir liegt das sehr am Herzen. Denn es hat ganz viel mit dem zu tun, woran ich glaube. Die Idee, dass alle Menschen gleich viel wert sind, dass jede Stimme zählt, dass ich nicht nur für mich, sondern auch für andere verantwortlich bin, diese Idee ist nicht erst 175 Jahre alt. Sie ist Basis meines Glaubens.

Musik

Für andere verantwortlich sein ist auch ein Grundgedanke des Christentums

Jeder Mensch ist wertvoll. Ich bin nicht nur für mich verantwortlich, sondern auch für andere. Das ist ein Grundgedanke der Demokratie, aber auch meines Glaubens. Ich finde ihn in vielen Erzählungen der Bibel. Zum Beispiel in der Geschichte von Mose und dem Volk Israel.

Das Volk Israel versklavt in Ägypten

Das Volk Israel lebte damals als Sklaven in Ägypten. Arm, ohne Rechte, ausgebeutet. Mose war einer von ihnen. Doch Mose genoss Privilegien. Er lebte im Palast des Pharaos. Er war reich und gebildet. Er hatte Macht. Als er älter wurde, fiel ihm auf, wie schlecht die Ägypter ihre Sklaven behandelten. Das gab ihm zu denken. Eines Tages war es soweit. Mose konnte und wollte nicht länger zusehen.

Mose will sein Volk befreien

Ich stelle mir vor: Ihm wurde klar: Er war als Ziehsohn des Pharaos selbst ein Teil des Problems. Und er beschloss: Mit Gottes Hilfe wird er die Sklaven befreien. Er wird die Menschen in eine lebenswerte Zukunft führen. In ein neues Land. Dort wird es besser sein. Für alle.

Der Weg in die Zukunft war weit und beschwerlich

Einfach war das nicht. Der Pharao wollte sie nicht gehen lassen und verfolgte sie. Dazu kam: Der Weg in die Zukunft war weit und beschwerlich. Die Menschen hatten Angst. Es wurde viel diskutiert und gemeckert. Über den richtigen Weg. Wie lange es noch dauern würde. Ob man es schon sehen könnte. Darüber, ob genug für alle da sein würde. Und auch, ob das Alte nicht doch besser war als das unbekannte Neue.

Mose erhält die Gesetztestafeln mit den 12 Geboten

Irgendwann kamen sie zu einem Berg. Während alle sich ausruhten, stieg Mose auf den Gipfel. Er wollte beten. In Ruhe mit Gott sprechen. Wie soll es weitergehen? Wie können wir es schaffen, gut miteinander unterwegs zu sein? Als er zurückkam, brachte er Worte von Gott mit. Regeln, die er auf Steintafeln geschrieben hatte. Darunter: Du sollst niemanden töten. Nicht stehlen. Lüge nicht. Nimm nichts, was dir nicht gehört. Regeln, die Juden und Christen zu einer Grundregel zusammenfassen: Liebe Gott, deinen Nächsten und dich selbst.

Diese Worte begleiteten Mose und das Volk von nun an. Sie halfen ihnen im Alltag. Was ist zu tun? Was ist richtig, und was gerecht? Was hilft, damit alle friedlich und gemeinschaftlich leben können?

Bis heute orientieren sich Menschen an diesen Regeln

Bis heute orientieren sich Menschen an diesen Regeln. Ich auch. Das habe ich von Mose gelernt. Und noch etwas habe ich von ihm gelernt. Es mag sein, dass ich Teil eines politischen oder gesellschaftlichen Problems bin. Das lässt sich manchmal gar nicht vermeiden. Aber ich kann auch Teil der Lösung sein.

Irgendwann wurde Mose klar: Er selbst wird das gelobte Land, die Zukunft nicht erreichen. Er war alt geworden. Er hatte Kinder und Enkelkinder. Sie werden ohne ihn weitergehen. Immerhin einen Blick auf das, was sein könnte, hatte er erhascht. Alles war er jetzt noch tun kann, ist den Jungen zu helfen, ihren Weg zu finden. Und er gibt ihnen das mit, was ihm selbst geholfen hat. Und was ihm wichtig war. Seinen Glauben an eine Zukunft. An ein Land, in dem alle leben können. Frei. Mit Gottes Segen.

Die Zukunft gehört den jungen Menschen

Heute feiern wir 175 Jahre Demokratie. Weil wir daran glauben, dass ein Leben in Frieden und Freiheit möglich ist. Ein langer Weg liegt hinter uns. Aber auch wir sind noch lange nicht am Ziel. Als Teil der Generation Boomer werde ich älter. Da geht es mir wie Mose. Den jungen Menschen gehört die Zukunft. Ich will für sie tun, was in meiner Macht steht. Mit ihnen diskutieren und streiten, wie diese Zukunft aussehen kann. Und ich will mir öfters die Frage stellen: Bin ich Teil eines politischen Problems, oder Teil der Lösung?

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