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Mir und anderen zur Mutter werden
Bild: michael_gaida_pixabay

Mir und anderen zur Mutter werden

Anna Maria Niem
Ein Beitrag von Anna Maria Niem, Mentorin für geistliche Ausbildung an der katholischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt
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Heute am Muttertag treibt mich die Frage um: Was bedeutet für mich eigentlich Muttersein? Was kann das heißen – auch für Menschen wie mich, die gar keine Kinder haben?

Dieses kleine schutzbedürftige Wesen ist Gott

Der Mai ist auch in der katholischen Kirche der Gedenkmonat für eine Mutter: für Maria, die Jesus geboren hat. Katholisch wird sie daher „Gottesmutter“ genannt. Für mich eine eigenartig faszinierende und auch geheimnisvolle Vorstellung: Eine Frau bekommt ein Kind, und dieses kleine, schutzbedürftige Wesen ist Gott, in Fleisch und Blut…

Sie bringt ihn in die Welt

Es gibt eine Ikone in der Ostkirche, die ich sehr mag. Es ist die so genannte „Muttergottes vom Zeichen“: Maria steht da mit zum Gebet erhobenen Händen. In ihrem Bauch ist eine kreisrunde Öffnung, in der das Jesuskind sitzt. Sie trägt ihn in ihrem Leib und bringt ihn von da in die Welt. Damit kann ich mich identifizieren: Das, was ich in meinem Leib trage, was ich in mir groß werden lasse, bringe ich hinaus in die Welt. Ob ich nun tatsächlich physisch Mutter bin oder nicht.

Die Bibel spricht nur selten in kurzen Worten von Maria

Was war Maria für eine Mutter? Die Bibel spricht nicht oft und in nur sehr kurzen Worten von ihr. Vieles muss ich mir selber dazudenken. Vielleicht habe ich mir bisher zu selten diese Mühe gemacht. Und vielleicht ist mir Maria deswegen bisher eher ein wenig fremd und unnahbar geblieben.

Eine Pflanze als Muttergestalt in der „Unendlichen Geschichte“

Mir kommen andere Muttergestalten aus der weltlichen Literatur auf den ersten Blick manchmal viel näher. Wie zum Beispiel Dame Aiuóla aus dem Buch „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Dame Aiuóla ist ein pflanzenhaftes Fantasiewesen. Bastian, die Hauptfigur des Buches, begegnet ihr. Er hat einen langen und verschlungenen Weg hinter sich. Er hat sich selbst größer und mutiger und mächtiger machen wollen, als er ist. Und das auf Kosten von anderen Menschen.

Bei ihr darf er noch mal ganz klein werden

Bei Dame Aiuóla darf Bastian noch einmal ganz klein werden. Als Pflanze bringt sie köstliche Früchte hervor, an denen er sich sattessen darf. Bei ihr wird er sich seiner Schuld erst richtig bewusst und kann darüber weinen. Sie nimmt ihn auf ihren Schoß. Michael Ende schreibt: Er „vergrub sein Gesicht in den Blumen auf ihrer Brust und weinte, bis er ganz satt und müde war.“ (446)

Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter

Dame Aiuólas warme und sättigende mütterliche Art erinnert mich an einen Psalm aus der Bibel. Da heißt es:Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, wie das gestillte Kind, so ist meine Seele in mir“ (Ps 131,2). Dieser Psalm hat mich schon immer sehr berührt, wie auch diese mütterliche Gestalt in Michael Endes Buch. Wenn ich so etwas lese, kommt eine tiefe Sehnsucht in mir zum Klingen – danach, bedingungslos angenommen und geliebt zu sein.

Bei ihr darf er einfach so sein, wie er ist

Bei Dame Aiuóla darf Bastian einfach so sein, wie er ist. Muss nicht erst brav und folgsam sein, um sie zufrieden zu machen. Er muss nicht erst etwas leisten oder gute Schulnoten nach Hause bringen, damit sie sich ihm liebevoll zuwendet. Sie nimmt ihn einfach so an, wie er ist, und schenkt ihm aus ihrem mütterlichen Reichtum. Und schließlich erfährt er in dieser bedingungslos verschenkenden Gegenwart: Er braucht sich selbst gar nicht größer zu machen. Er möchte genau der sein dürfen, der er ist. Und indem er weiß, dass er das sein darf, möchte er auch andere lieben lernen – ganz so, wie sie sind. Bedingungslos.

Jesus geht schon als zwölfjähriger Junge eigene Wege

Wenn ich mir die Erzählungen der Bibel genauer ansehe, wird mir klar: Auch Maria hat diese ganz und gar annehmende und freilassende Liebe zu ihrem Sohn gelebt. Immer wieder gibt es da Situationen, in denen er sie gehörig vor den Kopf stößt. Schon als zwölfjähriger Junge geht er ganz eigene Wege: Nach einer Wallfahrt zum Tempel nach Jerusalem entwischt Jesus seinen Eltern und bleibt einfach dort. Sie finden ihn erst zwei Tage später wieder. Er diskutiert im Tempel seelenruhig mit den Schriftgelehrten. Als seine Mutter ihm vorhält, sie und der Vater hätten sich Sorgen um ihn gemacht, antwortet er seelenruhig: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ (Lk 2,49)

Sie gibt ihm Raum, um sein ganz eigenes Wesen zu entwickeln

Seine Eltern verstehen nicht, was er ihnen damit sagen will. Von Maria wird aber nicht berichtet, dass sie ihm sagt: „Du dummer Junge, das darfst du nicht, sei brav, damit ich dich lieben kann!“ Von ihr heißt es nur, dass sie seine Worte in ihrem Herzen bewahrt und damit umgeht (Lk 2,51). Was Maria nicht versteht, lässt sie trotzdem gelten. Sie versucht ihn nicht zu verändern, so dass er in ihre Vorstellungen passt. Und gibt ihrem Kind damit den Raum, den es benötigt, um sein ganz eigenes Wesen zu entwickeln.

Jesus macht es seinen Angehörigen nicht immer leicht

Maria und seinen Angehörigen fällt es absolut nicht immer leicht, mit seinen Eigenarten umzugehen. Als er schon erwachsen ist und plötzlich so unvorstellbar viele Menschen um sich herumschart, gehen sie zu ihm. Sie wollen ihn zur Rede zu stellen, denn sie sagen sich: „Er ist von Sinnen!“ (Mk 3,21). Und doch geht Maria alle seine Wege mit.

Maria weiß, dass Jesus hier helfen kann

Auch wenn Maria ihrem Sohn Jesus so manche Eigenwilligkeit durchgehen lässt, heißt das nicht, dass sie selbst in allem zurückstecken würde. Eine Geschichte wird in der Bibel erzählt, in der Maria intuitiv weiß: Hier kann mein Sohn helfen. Bei einer Hochzeitsfeier in Kana in Galiläa passiert etwas sehr Unangenehmes. Die Feier ist noch in vollem Gange, und der Wein geht aus. Maria bekommt das mit und sagt es ihrem Sohn. Und der weist sie barsch zurück: „Was willst du von mir, Frau?“ (Joh 2,4) Maria lässt sich nicht beirren. Sie sagt zu den Dienern des Hauses: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5) Und so lockt sie Jesus aus sich heraus, er tut sein erstes Wunder und wandelt Wasser in besten Wein.

Sie vertraut auf ihre mütterliche Intuition

Maria steht in dieser Erzählung zu sich. Sie gibt nicht klein bei, als Jesus sie abweist. Sie vertraut auf sich selbst und ihre mütterliche Intuition und wird darin nicht enttäuscht.

Eine gute Mutter achtet auch auf ihre eigenen Bedürfnisse

Dame Aiuóla in Endes „Unendlicher Geschichte“ verausgabt sich in ihrer Mutterrolle völlig. Als Bastian sein Ziel erreicht hat, verwelkt sie traurig und geht ein. Ohne ihn ist sie plötzlich niemand mehr. Ich glaube, die Voraussetzung, anderen eine gute Mutter sein zu können, ist: Ich muss mir selbst eine gute Mutter sein. Muss und darf meine ganz eigenen Bedürfnisse kennen und stillen. Denn wenn ich ganz in mir und zu mir selbst stehe, dann kann ich andere loslassen und sie ihre eigenen Wege ziehen lassen. Dann muss ich mich nicht an sie klammern oder selbst eingehen, wenn sie mich doch verlassen.

Bis unter das Kreuz ist sie bei ihm gewesen

Dieses Verlassenwerden musste Maria erleben, als ihr Sohn Jesus gekreuzigt wurde. Bis unter das Kreuz ist sie bei ihm gewesen. Sie ist gemeinsam mit Jesu Freunden hinterher ihren ganz eigenen Weg weitergegangen. Und durfte erleben, dass Jesus auferstanden ist und lebt und auf neue, veränderte Weise weiter bei ihr ist.

Ohne ihr tiefes Gottvertrauen wäre sie wohl verzweifelt

Bei all dem hat Maria sicherlich ihr Glaube geholfen. Ohne das tiefe Vertrauen, dass von Gott her alles so stimmt und am Ende zum Guten gefügt wird, wäre sie wohl an Jesus und seinem Weg irgendwann schier verzweifelt.

Jeder ist einzigartig und kann seinen eigenen Weg finden

Davon kann ich mir heute am Muttertag auch selbst etwas mitnehmen. Wie Maria möchte ich immer tiefer daran glauben: Gott hat in jeden Menschen ein unverwechselbares Wesen hineingelegt. Er hat mich mit Begabungen und Sehnsüchten ausgestattet, die mich einzigartig machen. Ich kann immer mehr lernen, diesen Sehnsüchten und meiner Intuition zu folgen. Und meinen ganz eigenen Weg gehen. Und auch in liebevoller Zuwendung alle Menschen, die mir begegnen, ihre je ganz eigenen Wege gehen lassen. Ohne mich damit selbst zu verlieren. Dann werde ich mir selbst und anderen auch im übertragenen Sinne eine gute Mutter.

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