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Ostern: miteinander reden über das Leid
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Ostern: miteinander reden über das Leid

Stephanie Rieth
Ein Beitrag von Stephanie Rieth, Bevollmächtigte des Generalvikars und Dezernentin im Bistum Mainz
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Heute ist Ostersonntag - und ich bin noch etwas nachdenklich gestimmt. Ein befreites „Frohe Ostern“ will mir im Moment noch nicht so recht über die Lippen kommen. Und doch spüre ich: In diesem Jahr habe ich das Osterfest mit seiner befreienden Kraft so nötig wie noch nie. Die letzten Wochen der Fastenzeit waren für mich in diesem Jahr eine echte Herausforderung. Anfang März ist im Bistum Mainz unsere Studie zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch veröffentlicht worden. „Erfahren. Verstehen. Vorsorgen.“ - so lautet der Titel, und die Studie hat uns schonungslos vor Augen geführt, was sexualisierte Gewalt in unserem Bistum in den vergangenen Jahrzehnten angerichtet hat.

Jeden einzelnen Tag begleitet

Sie zeigt uns, wie sehr viel zu viele Menschen darunter leiden mussten und bis heute müssen: unter den schrecklichen Taten einzelner Menschen, aber auch unter dem Versagen des ganzen Systems. Heute bin ich als Teil der Bistumsleitung dafür verantwortlich, wie in unserem Bistum mit sexualisierter Gewalt umgegangen wird, und deswegen hat mich die Studie und das, was sie auslöst, jeden einzelnen Tag durch diese Fastenzeit begleitet. Und ich kann nur erahnen, was das alles vor allem für Betroffene von Missbrauch bedeutet.

Die Fastenzeit: Die Kirche nennt sie auch Österliche Bußzeit. Eine Zeit, in der sich Christinnen und Christen besinnen, auf das Leben schauen und sich auf einen Neuanfang vorbereiten. 

Deutliche Schritte in der richtigen Richtung

Dahinter steckt die Überzeugung: Es ist im Leben immer wieder erforderlich und hilfreich, sich neu auszurichten, sich selbst zu prüfen und die Wege, auf denen ich unterwegs bin und wie ich darauf unterwegs bin. Ich erlebe, dass mir das bei aller Herausforderung auch guttut. Ich mache Fehler, ich lade Schuld auf mich, ich werde mir selbst und anderen nicht gerecht. Die Fastenzeit gibt mir den Rahmen dazu, das anzuschauen, vor mir selbst und vor Gott zu sagen: Ja, so ist es. Aber vor allem gibt sie mir den Rahmen und den Anstoß, mich zu ändern, mich verändern zu lassen. 

Und irgendwie hat das in dieser Weise dann auch mit unserer Aufarbeitungsstudie im Bistum in diese Zeit, in diesen Rahmen gepasst: Wir haben uns die Fehler, die Schuld, das Versagen und das Leid angeschaut, das Menschen im Namen der Kirche angetan wurde. Es bewegt und erschüttert uns nachhaltig, und gerade daraus erwächst der Wunsch, nein der feste Wille, dies alles, unseren Umgang mit sexualisierter Gewalt nachhaltig zu verändern. Und auch wenn wir schon deutliche Schritte in der richtigen Richtung unterwegs sind, braucht es immer wieder den Punkt, an dem wir innehalten, unser Tun anschauen und uns neu ausrichten. 

Ganz unterschiedliche Veranstaltungen

Eine wichtige Erfahrung dabei, die ich täglich mache: Es ist gut, wenn wir das nicht nur mit uns selbst ausmachen, sondern wenn wir darüber reden. 

Darüber reden hilft: über das, was mich erschüttert, über Schuld, Versagen und Leid, über die Unsicherheiten, die damit verbunden sind. Ich erlebe, dass mir das hilft: im Persönlichen, wie auch bei dem, was uns im Bistum gerade mit der Aufarbeitungsstudie beschäftigt.

Mit anderen darüber reden: Das hat etwas von offenlegen und eingestehen, es hilft aber auch dabei, einzuordnen und neue Perspektiven zu sehen. 

Ich war in den letzten Wochen sehr viel und in vielfältigen Gesprächen unterwegs: Gemeinsam mit dem Bischof und dem Generalvikar bin ich an fünf Orten mit den Menschen unseres Bistums Mainz in sogenannten Dialogveranstaltungen im Gespräch gewesen. Ganz unterschiedlich waren diese Veranstaltungen - immer aber haben uns die Menschen dort neben ihren Fragen auch wichtige Perspektiven mitgegeben für den Umgang mit dem Thema des Missbrauchs. 

Das Entsetzen zu verarbeiten

Aber daneben sind es auch Tag für Tag viele Gespräche mit Einzelnen: mit vom Missbrauch Betroffenen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in ähnlicher Weise darum ringen, das, was wir erfahren haben, einzuordnen, die nach Wegen suchen, das Entsetzen zu verarbeiten, wieder eine Perspektive zu gewinnen,

Und neben all dem Schwierigen erlebe ich es dann, dass wir im Miteinander-Reden ein Stück weiterkommen und wieder weitersehen. 

Diese Erfahrung finde ich so auch in einer der für mich schönsten Ostererzählungen in der Bibel wieder. Es ist die Erzählung von den beiden Jüngern, die nach Emmaus gehen.

Sie verlassen Jerusalem, wo Jesus gerade gekreuzigt wurde, in Richtung Emmaus, ein Ort, der eine Tagesreise entfernt ist. Sie haben erlebt: Jesus, auf den sie ihre ganze Hoffnung gesetzt haben, ist tot. Er wollte so viel und so grundlegend in dieser Welt verändern. Aber er wurde gekreuzigt, hingerichtet, weil seine Botschaft und seine Haltung vielen zu gefährlich waren. 

Er ist kein gewöhnlicher Mann

Die Jünger stehen noch ganz unter dem Eindruck der Kreuzigung, sie sind in Trauer und Verzweiflung versunken. Sie sind hoffnungslos, sehen nur den Boden unter ihren Füßen.

Und während sie in dieser Situation unterwegs sind, gesellt sich ein Mann zu ihnen. Er geht den Weg mit ihnen, spricht mit ihnen, will von ihnen hören, was sie so verzweifelt sein lässt. Und die Jünger reden, und der Mann hört zu und hilft ihnen dabei, einzuordnen.

Für die, die diese Erzählung heute hören oder lesen, wird schon von Anfang an deutlich: Dieser Mann, der da zu den beiden Jünger dazu kommt, ist kein gewöhnlicher Mann, es ist der auferstandene Jesus. Die Jünger erkennen das erst am Schluss bzw. im Nachhinein. 

Es war Jesus selbst

In Emmaus angekommen, bewegen sie den Mann, noch bei ihnen zu bleiben, vielleicht, weil sie erlebt haben, wie wohltuend und hilfreich es ist, mit ihm über alles zu sprechen. Sie essen mit ihm zu Abend, und während sie das Brot miteinander teilen, erkennen sie: Es war Jesus selbst, der sie die ganze Zeit begleitet hat -  und er lebt.

Das was mit ihnen passiert ist, beschreiben die Jünger so: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete?“ (Lukas-Evangelium 24,32) 

Und dieses Erlebnis hat für die Jünger eine so ungeheuerliche und befreiende Kraft, dass dann ganz viel passiert. Obwohl es schon spät am Abend ist, brechen die beiden noch in derselben Stunde wieder auf und kehren nach Jerusalem zurück. Voller Zuversicht erzählen sie den anderen Jüngern, die dort noch in Trauer und Schockstarre versammelt sind, von ihrem Erlebnis und vor allem davon, dass Jesus lebt. Und plötzlich ist da Hoffnung und eine Perspektive. 

Erst im Nachhinein erkennen

Hoffnung und Perspektive, danach sehne ich mich in diesem Jahr an Ostern ganz besonders. Vielleicht muss ich all die Gespräche, die ich gerade erlebe, einmal aus der Perspektive dieser Geschichte von Emmaus betrachten. Was passiert, wenn wir miteinander im Gespräch sind? Was zeigt sich neben all dem Schwierigen und Schweren? Was kann mir der oder die andere an neuer Sichtweise geben? Was darf aber auch ich dem oder der Anderen an Kraft und Hoffnung geben? 

Im Gespräch sein ist heilsam, und für mich als glaubender Mensch ist es tröstlich zu erleben, wie und auf welche Weise Gott sich in dieses Gespräch einmischt, zu Wort kommt und mir nahe kommt - auch wenn ich das oft erst, wie die beiden Jünger im Nachhinein erkenne. 

Mein Kollege und ich sind momentan sehr oft wie diese beiden Jünger unterwegs, ganz gefangen in dem, was uns an dem Ganzen beschäftigt und entsetzt. Aber trotzdem gelingt es uns immer wieder, mal dem einen, mal der anderen, den gemeinsamen Blick in Richtung Hoffnung zu lenken. 

"Ich bin nicht allein auf meinem Weg"

Ein Mitarbeiter, der selbst betroffen ist von Missbrauch, hat mir in den vergangenen Tagen gesagt: „Ich weiß jetzt, dass es gut und richtig ist, über das zu reden, was mir passiert ist, weil mir das nicht nur selbst hilft, sondern weil ich damit etwas bewegen kann.“

Wenn ich darüber heute an Ostern nachdenke, dann sind das solche Emmauserfahrungen, die mir für mein Tun neue Kraft, Zuversicht und Hoffnung geben. 

Ostern, das ist dann für mich genau auch diese Erfahrung: Ich bin nicht allein auf meinem Weg, auch mit dem Schwierigen im Leben. Andere sind mit mir unterwegs, wir können reden, uns austauschen, uns gegenseitig stärken. Und Gott zwischen uns entdecken.

 

 

 

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