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Karfreitag - eine Heldenreise?
Bild: medio.tv / Dellit

Karfreitag - eine Heldenreise?

Tanja Griesel
Ein Beitrag von Tanja Griesel, Evangelische Pfarrerin, Fritzlar
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Filme und Serien zu streamen, ist heute die Regel. Manche Filme sehe ich aber immer noch auf DVD: Herr der Ringe, Harry Potter und Star Wars zum Beispiel. Ich kenne sie mittlerweile in und auswendig. Trotzdem packt es mich jedes Mal aufs Neue.

Das Prinzip der Heldenreise

Sie sind unterschiedlich – und doch auch ähnlich: Hinter ihnen steht das Prinzip der Heldenreise. Sie wurde von Joseph Campbell entdeckt. Mythen und Legenden, sagt er, sind nach einer typischen Erzählstruktur aufgebaut. Der Held wird mit einer Aufgabe betraut. Er verlässt seine gewohnte Umgebung und stürzt sich ins Abenteuer. Er wird in eine Krise geführt und muss Prüfungen bestehen. Er trifft dabei auf Wegbegleiter, Verbündete und auch Feinde. Er überwindet Hindernisse und Gefahren. Die letzte Prüfung ist die schwierigste. Um sie zu bestehen, stößt der Held nun auf ein besonderes Elixier, eine Kraft, die ihm den Sieg beschert. Er kann die Aufgabe erfüllen. Der Held oder die Heldin kehrt als gereifter Mensch nach Hause zurück. Die Welt ist gerettet – und der Held auch.

Mehr Widerstandsfähigkeit würde schon reichen

So ein Elixier hätte ich auch gern. Es muss ja nicht gleich eine Superkraft sein – einfach etwas mehr Widerstandsfähigkeit würde mir schon reichen. Eine innere Kraft, die ich den ganz alltäglichen Prüfungen des Lebens entgegensetzen kann. Krisen und Herausforderungen gibt es genug.

Eine schreckliche Diagnose

Ich treffe eine Bekannte. Ich frage sie, wie es ihr geht. Und es bricht aus ihr heraus. Sie erzählt mir, dass die Frauenärztin beim Ultraschall etwas in ihrer Brust entdeckt hat. Ein verdächtiger Schatten. Die weiteren Untersuchungen haben den Verdacht bestätigt: Es ist tatsächlich ein Tumor. Sie hat unglaubliche Angst. Ihre Tante ist an Brustkrebs gestorben. Auch mir schnürt sich die Kehle zu, als sie mir das erzählt. Wird sie wieder gesund?

Ein Unfall mit Folgen

In unserer Straße lebt eine Frau. Eine rüstige alte Dame. Fast täglich sehe ich sie, wie sie in ihrem Garten arbeitet. Groß ist er nicht, aber es gibt immer etwas zu tun. Der Garten halte sie fit, sagt sie und fügt hinzu: Ohne den Garten würde sie eingehen wie eine Primel. Sie wohnt allein. Sie hat keine Kinder. Ihr Mann ist seit vielen Jahren verstorben. Als sie ein Glas Gurken aus dem Keller holen will, stürzt sie. Sie fällt unglücklich. Nach zwei Tagen findet sie die Nachbarin völlig entkräftet am Fuß der Kellertreppe liegen. Sie kommt ins Krankenhaus. Oberschenkelhalsbruch. Sie wird nicht zurückkehren in ihr Haus und auch ihren Garten nicht wiedersehen. Was wird jetzt aus ihr?

Zwei Kinder aus einem Kriegsgebiet

In der Stadt fallen mir zwei Schulkinder auf. Ich schätze, dass sie vielleicht gerade mal in die erste, höchstens in die zweite Klasse gehen. Ihre Schulranzen sind viel zu groß für sie. Sie unterhalten sich in einer für mich fremden Sprache. An dem einen Rucksack baumelt eine Ukraine-Flagge. Zwei Kinder aus einem Kriegsgebiet. Geflüchtete. Was haben sie erlebt und wen zurückgelassen?

Ich weiß nicht, wie es für meine Bekannte, für die Nachbarin oder die beiden Kinder weitergeht. Ich wünsche Ihnen, dass sie auch eine Kraft entdecken, die ihnen weiterhilft. Vielleicht ist es ein Anfang, anderen zu erzählen, was passiert ist.

Erzählen ist heilsam

In Geschichten verarbeiten Menschen, was sie erlebt haben. Das Erzählen ist heilsam. Wenn wir erzählen, ordnen sich unsere Gedanken und Gefühle. Wir verarbeiten, was wir erlebt haben. Eigene und auch fremde Geschichten helfen uns, mit dem Leben klarzukommen. Sie können Mut machen, Hoffnung spenden und trösten. Die Heldenreise ist ein so beliebtes Erzählmuster, weil darin grundlegende menschliche Erfahrungen verarbeitet werden. So wie in dieser Heldengeschichte hier:

Die Heldenreise Jesu

Diese besondere Heldengeschichte beginnt mit der Geburt eines Kindes. Ein Baby, klein und schutzlos. Unter schwierigen Bedingungen in einem einfachen Stall geboren. Der Retter der Welt soll dieses Kind sein. So sagen es die Weisen und Gelehrten voraus. Dem König des Landes kommt das auch zu Ohren. Er will das Kind töten. Die junge Familie flieht und entkommt. Es vergehen viele Jahre. Wie der Vater wird auch der Sohn Zimmermann. Als er erwachsen ist, hört er den Ruf: Er muss seine Familie und seine Heimat verlassen. Auf ihn wartet ein anderes Leben. Ein Leben für Gott. Das ist seine Berufung. Er wird Prediger, Lehrer und Heiler.

Jesus erzählt von Gottes neuer Welt

Er erzählt von der neuen Welt Gottes. Sie wächst jetzt bereits unter uns und wird irgendwann vollendet sein. In dieser neuen Welt werden die Verhältnisse, wie wir sie kennen, auf den Kopf gestellt: aus arm wird reich, aus schwach wird stark, was geknickt ist, richtet sich auf – und die Letzten, so sagt er, werden die Ersten sein. Damit trifft er den Nerv der Zeit. Die Menschen sehnen sich nach Veränderung. Wo immer er auftaucht, kommen sie zusammen, um ihn zu hören. Er heißt Jesus, aber sie nennen ihn auch „Christus“ oder „Messias“. Sie glauben: Der Messias bringt Frieden und Gerechtigkeit.

Helden haben auch Gegenspieler

Aber Helden haben auch Gegenspieler. Nicht allen gefällt das, was Jesus tut. Und Jesus geht nicht gerade diplomatisch vor. Immer wieder legt er sich mit den falschen Leuten an. Als er in Jerusalem die Händler aus dem Tempel wirft, reicht es seinen Gegnern. Kurze Zeit später wird ihm der Prozess gemacht. Jetzt wäre es gut, eine Superkraft einzusetzen. Schließlich hat Jesus gezeigt, dass er besondere Fähigkeiten besitzt. Hat er nicht Wasser in Wein verwandelt? Hat er nicht Menschen geheilt? Sogar gegen Naturgewalten hat er sich erhoben. Und nun? Jetzt, wo sein eigenes Leben auf dem Spiel steht, wehrt er sich nicht. Noch nicht einmal mit Worten verteidigt er sich. Jesus schweigt.

Ist Jesus doch kein Held?

Ein wahrer Held müsste sich aus so einer misslichen Lage befreien können. Ist Jesus vielleicht doch kein Held? Und seine Geschichte keine Heldenreise?

Kein himmlisches Donnergrollen. Kein Wunder geschieht. Nur das Unvermeidliche: Das Urteil wird vollstreckt. Jesus wird ans Kreuz genagelt.

Wir möchten gern verstehen, warum etwas passiert

Menschen leiden aus unterschiedlichen Gründen. Sie werden krank, erfahren Schmerzen, Abschiede, Trennungen. Sie erleben Verlust. Trauer. Einsamkeit. Manche fragen dann: Warum? Warum passiert mir das? Warum lässt Gott das zu? Es ist menschlich nach dem Warum zu fragen. Ich möchte verstehen, warum etwas passiert. Es muss doch einen Grund geben. Eine Ursache. Eine Erklärung. Jemand muss schuld sein. Aber dem ist nicht so.
Jedenfalls nicht immer. Dinge passieren. Einfach so. Die leidvollen Erfahrungen, auf die ich keinen Einfluss habe, sind die schwersten Prüfungen.

Jesus ruft in seiner schwersten Stunde Gott an

Jesus muss die schwerste Prüfung am Kreuz bestehen. Er ist allein. Alle sind fort, auch seine Freunde. In dieser dunkelsten Stunde, kurz vor seinem Tod, schreit er seine Verzweiflung heraus: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er klagt nicht die Personen an, die ihn verraten oder verurteilt haben. Die Frage, wer Schuld hat, stellt Jesus nicht. Er klagt Gott an. Warum hast du mich verlassen? Jesus will nicht sterben. Doch er fügt hinzu: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Wer so spricht, rechnet mit einem Gegenüber. Jesus hadert mit Gott, aber er ist sich auch sicher: Er hört ihn. Gott ist nicht fern und unnahbar. Gott ist da.

Jesu Gottvertrauen ist seine Heldenkraft

Jesus ist kein Superheld. Jesus ist ein Mensch. Er zeigt Schwäche. Er zweifelt. Er hat Angst. Aber sein Vertrauen richtet er auf Gott. Und das ist seine Heldenkraft.

Meiner Bekannten hat es gutgetan, sich mir gegenüber zu öffnen und zu erzählen. Sie wird vielleicht noch in Situationen kommen, wo Worte fehlen. Und dann? Warum nicht Schweigen. Weinen. Klagen. Wie Jesus die Wut und die Verzweiflung hinausschreien. Beten. Damit rechnen: Gott hört mich. Auch in der dunkelsten Stunde bin ich nicht allein. Das ist nicht das Ende.

Was mir auf meiner Heldenreise Kraft gibt

Jeder von uns durchlebt seine eigene Heldenreise. Dazu gehören Schicksalsschläge, die Erfahrung von Schmerz und Trauer. Wie kann ich Krisen bestehen, ohne daran zu zerbrechen? Vielleicht so, wie es andere vor mir erlebt haben. „Gott richtet alle auf, die niedergeschlagen sind“, heißt es im Alten Testament (Psalm 145,14).

Mein Glaube ist das Elixier, die Quelle, aus der ich schöpfe und Mut fasse. Ich kann Leidvolles durchstehen. Ich zerbreche nicht.

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