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Ist Gott in unserer Mitte?
Bild: pixabay / Andrea Don

Ist Gott in unserer Mitte?

Sebastian Pilz
Ein Beitrag von Sebastian Pilz, Katholischer Referatsleiter Diakonische Pastoral/Seelsorge in besonderen gesellschaftlichen Herausforderungen
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Das Mineralwasser ist alle. Ich stehe in der Küche und starre auf die zwei leeren Glasflaschen, die auf der Anrichte stehen. Schon wieder, denke ich. Leere Flaschen sind an sich keine große Sache. Doch genau die führen bei meiner fünfköpfigen Familie regelmäßig zu Diskussionen. Eigentlich haben wir eine Regel, aber die funktioniert häufiger nicht. Dann entwickelt sich ein verbaler Schlagabtausch anhand verschiedenster Fragen: Wer holt neue Wasserflaschen aus der Speisekammer? Etwa die Person, die als Nächste Durst hat, oder jene, die den letzten Schluck trinkt? Und was passiert mit den leeren Flaschen? Warum soll derjenige, der neuen Nachschub holt, automatisch die leeren Flaschen wegbringen? Und wieder ganz anders: Was spricht eigentlich dagegen, gleich vier oder sechs Flaschen in die Küche zu holen, damit der Vorrat vom begehrten Wasser einfach länger hält? Eine Fülle an Fragen, die scheinbar unendliche Möglichkeiten von Argumenten nach sich zieht. Und egal welche Lösung dann dabei rauskommt, unsere Küche sieht manchmal aus wie ein Getränkemarkt für Mineralwasser.

Wassernachschub – für uns selbstverständlich

Meine Frau und ich haben uns nach solchen Debatten schon oft schmunzelnd die Frage gestellt: Warum haben wir eigentlich beim Hausbau nicht eine Art Tränke in die Küche gebaut? Dann käme das Wasser aus der Wand und es gäbe nicht immer diese Diskussionen. Nun gut, Leitungswasser wäre so eine Lösung. Aber Wasser mit Kohlensäure ist uns dann doch lieber. Bevor ich nun wegen zwei leeren Flaschen auf der Anrichte wieder eine neue Diskussion aufmache, gehe ich schnell in die Speisekammer und hole Nachschub.

Um eine Wasserdiskussion viel existenzieller Art geht es heute in der Bibel. In der ersten Lesung im katholischen Sonntagsgottesdienst wird eine Erzählung aus dem Buch Exodus vorgetragen1. Das Volk Israel dürstet nach Wasser und murrt gegen Mose. Der hat sie aus Ägypten herausgeführt und mit Gottes Hilfe am Roten Meer vor der Streitmacht des Pharaos befreit. Nun ist das Volk in der Wüste und hat Durst. Sie lehnen sich gegen Mose und Gott auf. Es gibt Streit und Diskussionen. Es läuft sogar fast darauf hinaus, dass Mose gesteinigt wird. Die Israeliten sind in existenzieller Not und fragen Mose: „Wozu hast du uns überhaupt aus Ägypten heraufgeführt, um [uns][…] vor Durst sterben zu lassen?“2

Musik

Stab + Stein = Wasser

Die existenzielle Not der Israeliten löst Gott wenig später auf. Er hört die Klage Moses und hilft. Mit einem Kreis von Zeugen soll Mose zu einem Felsen gehen. Dort schlägt er mit dem Stab, mit dem er einst schon das Meer geteilt hatte, auf einen Stein. Sofort entspringt an dieser Stelle Wasser und das Volk kann trinken. Mord und Totschlag sind abgewendet. Ich kann angesichts solcher Not verstehen, dass Menschen wie die Israeliten in der Bibel am Limit sind. Selbst bis zum heutigen Tag gibt es Streit und sogar Kriege um lebenswichtige Wasservorräte. Eine gerechte und vor allem friedliche Verteilung ist gewiss in Gottes Sinn. Aber mir scheint, dass es in der Bibel an dieser Stelle um mehr geht.

Im Text werden innerhalb weniger Zeilen kurz hintereinander drei Fragen gestellt: Da zweifelt erst das Volk an Gott, dann zweifelt Mose am Volk und zum Schluss lautet die abschließende dritte Frage wörtlich: "Ist der Herr in unserer Mitte oder nicht?"3 Das ist die alles entscheidende Frage. Es geht um das Vertrauen zwischen Gott und seinem Volk. Und dieses Vertrauen steht vor einer maximalen Zerreißprobe. Nicht umsonst nennt Mose am Ende des Textes den Ort "Massa und Meriba, Probe und Streit, weil die Israeliten gehadert und den Herrn auf die Probe gestellt hatten."4 Es ist also sowohl das Vertrauen in Gott und als auch untereinander gestört.

Mose glaubt stellvertretend

Ist der Herr in ihrer Mitte oder nicht? Die Antwort auf diese zentrale Frage entdecke ich in zwei Perspektiven. Die eine ist die des Volkes. Die Israeliten schaffen es in dieser Situation, ihren Unmut Mose mitzuteilen. Und Mose wiederum schafft es, wie es im Text heißt, zu Gott zu schreien. Er lässt also den Unmut und die Not nicht auf sich sitzen, sondern formuliert ein Klagegebet. Das zeigt mir: Mose vertraut im tiefsten Inneren immer noch der Zusage vom Dornbusch: Da versprach ihm Gott einst: Ich bin, der ich bin da. Und auf diese Nähe vertraut Mose immer noch, selbst als alle am Verdursten sind. In seiner Klage glaubt er stellvertretend für das ganze Volk an Gottes Anwesenheit.

Die zweite Antwortperspektive auf die Frage, ob Gott noch in der Mitte seines Volkes ist, kommt von Gott selbst her. Gott lässt das Wasser nicht irgendwo aus dem Felsen entspringen, sondern es passiert am Gottesberg Horeb. Er schenkt also nicht nur Wasser, sondern beginnt mit seinem Volk an diesem Ort eine ganz neue Geschichte. Auf diesem Berg wird Mose die Zehn Gebote erhalten. Bis heute haben die Zehn Gebote für Juden und Christen eine zentrale Bedeutung. Sie sind quasi bis heute im übertragenen Sinn wesentliches Wasser zum Glaubensleben. Das Faszinierende ist, dass Gott dieses klare Ja zu seinem Volk trotz des Streites spricht. Auch er erweist sich also dem treu, was er einst im Dornbusch versprach. Damit wird klar: Ja, Gott ist weiterhin fest in der Mitte der Israeliten. Er ist in dieser Not da.

Musik

Unbedeutende Diskussion vs. Existenzielle Not

Was mache ich nun, wenn in meiner Küche wieder mal das Mineralwasser alle ist? Wenn ich also im Streitfall wie Mose an meine Küchenwand schlagen möchte, damit spontan Wasser entspringt?

Mir fällt auf, wie unbedeutend die "wer holt oder bringt die Flaschen weg" Diskussion ist. Es geht bei mir daheim keinesfalls um eine existenzielle Not. Das Problem lässt sich lösen und ich sollte mich nicht so aufregen. Im Nachdenken darüber wird mir aber noch etwas ganz anderes bewusst. Am "Wassertrinkplatz" in der Küche finden immer wieder kurze Begegnungen und Gespräche statt. Da gibt es nicht nur Streit um Glasflaschen, sondern ich höre von meinen Kindern auch, wie es in der Schule war oder was die Freunde machen. Die Küche ist ein wichtiger Ort meiner Familie, so wie früher Brunnen lebenswichtig im Zentrum von Dörfern lagen.

Den Wassertrinkplatz meiner Familie habe ich besonders in den vergangenen zwei Wochen schätzen gelernt, als ich auch in eine Art Wassernot kam. Binnen weniger Tage ist sowohl die Mutter als auch der Vater meiner Frau verstorben. Sie waren die Mitte unserer Großfamilie und besonders meine Kinder wichtige Bezugspersonen. Der Schmerz ist groß. Und plötzlich bin ich dem Volk Gottes in der Bibel sehr nahe. Wenn ich sehe, wie meine Frau und meine Kinder traurig sind. Wie uns die zwei Schicksalsschläge das Lebenswasser abgraben und wir als Familie drohen seelisch auszutrocknen. Und auf einmal hängen wir genauso dürstend da wie die Israeliten damals und fragen: Ist Gott noch in unserer Mitte?

Die Küche ist mein Horeb

Und dann passiert in den vergangenen zwei Wochen das, was auch bei der Wassernot am Berg Horeb geschah: Mitten in der Küche, an unserem Brunnenort, gibt es immer eine Person, die Trost spendet und Zuversicht ausstrahlt. Die also entweder, wie Mose es schafft, in gläubiger Zuversicht zu Gott zu klagen und zu beten. Oder die einfach nur durch ihre oder seine Art Gottes Nähe irgendwie ausstrahlt. Da ist zum Beispiel meine Tochter, die nebenan Klavier spielt. Da ist mein Sohn, der mit einem witzigen Spruch à la "„Hallo ich bin der Bruna, der Kameramann und bin heute auch dabei" in die Küche kommt. Ein anderes Mal kommt mein Jüngster angesprungen und umarmt uns alle.

Egal wie viele volle oder leere Wasserflaschen nun in meiner Küche stehen, mir ist klar: Die Küche ist mein Horeb, mein Gottesberg. Selbst in aller Not kann ich da mitten im Alltag kleine Erfahrungen von Gottes Nähe spüren. Gott ist da. Das wird mal ganz direkt deutlich, wenn wir uns zum Abendgebet am Küchentisch zusammenfinden. Das passiert indirekt, indem wir in Liebe füreinander da sind und uns tragen und manchmal auch ertragen. Denn selbst im Streit kann Gottes Liebe auch scheinen, wie der heutige Bibeltext zeigt. Das macht Mut, mit dieser Frohen Botschaft in den Sonntag zu starten: Gott ist da.

1Exodus 17,3-7.
2Exodus 17, 3.
3Ebd.
4Exodus 17,7.

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