Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Beim Namen gerufen
Bild: medio.tv / Schauderna

Beim Namen gerufen

Hermann Trusheim
Ein Beitrag von Hermann Trusheim, Evangelischer Schulpfarrer, Hanau
Beitrag anhören:


Hanau, Ortsteil Kesselstadt. Da wohne ich, da gehe ich einkaufen wie alle anderen auch im Supermarkt mitten im Quartier. Da trifft man sich. 

‚Hey, Trusi, kennst du mich noch?‘ - Ruft einer hinter mir. Muss ein Schüler sein, denke ich mir, denn die nennen mich so. Ich drehe mich um und muss erst mal hoch schauen. Ein großer junger Mann steht da: Breite Schultern, Vollbart, Schiebermütze. Als er mich angrinst, weiß ich Bescheid: ‚Mensch, Ferhat‘, sage ich und verkneife mir ein ‚Groß bist du geworden‘ ich frage lieber ‚Wie geht‘s’n dir?‘

Ferhat hat seinen Weg gefunden

Und Ferhat erzählt. An unserer Schule lief’s nicht so toll für ihn. Da hat er lieber eine Ausbildung gemacht. Das war genau das Richtige für ihn. Jetzt hat er große Pläne. Er will noch weitermachen. Hat Lust am Lernen gefunden.

Ich freue mich mit ihm und für ihn. Dass er seinen Weg gefunden hat. Dass er was aus sich gemacht hat und weiter dranbleiben will. Wir geben uns die Hand und grinsen beide. ‚Bis die Tage‘ verabschieden wir uns auf Hessisch.

Ferhat und der bunte Haufen in „K-town“

Ferhat Unvar – einer von vielen aus Kesselstadt-West, oder wie wir hier sagen: K-Town. Junge Erwachsene, die ihren Platz im Leben suchen und ihr Glück. Die Schule machen, Ausbildung, die gerne Spaß haben und feiern. Viele besuchen wie Ferhat das JUZ-K-Town, das Evangelische Jugendzentrum. Da gibt’s was Besonderes: Boxtraining. Das Leben in K-Town kennt viele Farben und Sprachen. Wir sind ein bunter Haufen. Und darauf sind wir stolz. 

Plötzlich rausgerissen aus der bunten Welt: Das Attentat von Hanau

Der 19. Februar 2020 hat uns herausgerissen aus unserer bunten Welt:  Sirenengeheul mitten in der Nacht. Chaos auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt. Um die Ecke liegt eine Sisha-Bar, in der Schüsse gefallen sind. Auch auf dem Parkplatz und vorher in der Stadt. Blaulicht, Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr.

Erst am nächsten Tag wird klar, was da passiert ist: ein rassistischer Attentäter hat neun Menschen ermordet. Das ist unfassbar. Und noch immer ist vieles nicht aufgeklärt.

Ein Kreuz steht heute auf dem Parkplatz zur Erinnerung an einen jungen Mann, der den Attentäter aufhalten wollte und von diesem erschossen wurde. Fotos der Ermordeten hängen an einem Mahnmal. Das von Ferhat ist dabei.

Es braucht Erinnerungskultur

Der 19. Februar, der Tag des rassistischen Attentats in Hanau, hat sich in das Gedächtnis aller eingeprägt. Auch derer, die nicht mit Hanau verbunden sind.  

Der 19. Februar liegt heute schon zwei Wochen zurück. Er ist aber das ganze Jahr über aktuell. Denn es braucht mehr als Gedenktage. Es braucht Erinnerungskultur. 

Erinnerungskultur kennt die Daten, aber ist auf kein Datum eingeschränkt. Gedenken denkt an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nur so wird aus Gedenken mehr als Erinnerung. Es geht darum, mir das, was geschehen ist, ins Bewusstsein zu rufen. Nicht nur für einen Tag. Damit ich achtsam bleibe, Kraft und Mut finde, dem Bösen zu widerstehen, in meinem Alltag, in meiner Welt.

Die Namen der Opfer dürfen nicht vergessen werden

Ins Bewusstsein rufen: Die Initiative ‚Demokratie (er)leben Hanau‘ hat den Hashtag ‚Say their names‘ ins Leben gerufen. Die Namen der neun Ermordeten sollen nie vergessen werden: 

Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtovic, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saracoglu, Gökhan Gültekin, Vili-Viorel Paun, Mercedes Kirpacz, Kaloyan Velkov.

Diese Namen sagen. Dann bleibt präsent, was diese Menschen bedeuten. Neun Leben, die zu uns gehören. Neun Menschen, die wir vermissen. 

Neun Namen nennen, damit wir darauf achten: Jeder Name, jeder Mensch ist unendlich wichtig.

Gott ruft uns bei unserem Namen

‚So spricht der Gott, der dich geschaffen hat – Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.‘ Das sagt Gott, egal, mit welchem Namen man Gott anruft.

Ich bin ein Geschöpf Gottes. Dieses Bekenntnis verbindet Juden, Christen und Muslime. Gott hat mich geschaffen, ganz persönlich, bei ihm habe ich einen Namen. Ich bin wertvoll, ich besitze Würde. Die Bibel bezeichnet mich als Gottes Ebenbild.  Das müssen alle anerkennen und respektieren. So will Gott das.

Entschieden gegen „Alltagsrassismus“ eintreten

Es braucht Kraft, Mut und Geduld, das umzusetzen. Längst nicht alle verhalten sich respektvoll gegenüber Anderen. ‚Alltagsrassismus‘ ist eine verbreitete Erscheinung der Ausgrenzung geworden, ‚Alltagsrassismus‘ beginnt in der Sprache, wenn zwischen ‚Wir‘ und ‚Die anderen‘ unterschieden wird. ‚Wir‘ sind die Guten, die ‚Richtigen‘, ‚Die anderen‘ sind ‚fremd‘, ‚verkehrt‘, ‚böse‘.

Vielfalt wertschätzen

Für Gott gibt es nur ein Großes ‚Wir‘. Ein ‚Wir‘ von vielen Verschiedenen. Ich möchte lernen, das als Vielfalt wert zu schätzen, ohne Probleme zu übersehen. Vielfalt braucht Verständigung – das beginnt damit, dass ich mich traue, auch schwierig auszusprechende Namen zu nennen. Meiner ist für andere ja auch nicht so einfach auszusprechen.

Für mich findet das in der Schule statt, für andere vielleicht am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft. Schwierige Namen lasse ich mir vorsagen, manchmal buchstabieren. Wenn ich die dann versuche auszusprechen, wird’s manchmal lustig – aber es geschieht auch was: Annäherung. Manche Namen haben eine Bedeutung in meiner Sprache: Der Name meiner Schülerin Melina kommt vom griechischen Wort für ‚Honig‘ und der Name meines Schülers ‚Habibi‘ bedeutet ‚Schatz‘.

‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage‘

Unsere Schule ist Teil des Netzwerkes ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage‘, und das nehmen wir sehr ernst. Rassistische Sprüche und Symbole werden nicht geduldet. Wenn das vorkommt, wird es sehr ernsthaft in Gesprächen und Projekten bearbeitet. 

Im vergangenen Jahr hat unsere Theatergruppe ein Stück mit dem Titel ‚Anders‘ selbst entwickelt. Das Thema ist ‚Alltagsrassismus‘ und wie man damit umgehen kann. Es wurde sehr erfolgreich aufgeführt – die Namen der Theatergruppe spiegeln die Vielfalt der SchülerInnen wider. 

Was wäre aus Ferhat geworden?

Wenn ich an Ferhat denke, frage ich mich, wie sein Leben wohl weiter gegangen wäre. Ob er weiter in K-Town geblieben wäre? Ob er mir irgendwann seine Frau, seine Kinder vorgestellt hätte?  Bestimmt hätte er seinen Weg weiter gemacht. So viel ist mit ihm verloren.

Am 14. November 2022 wäre Ferhat 26 Jahre alt geworden. An diesem Tag haben wir uns im Congress-Zentrum Hanau getroffen. Nicht nur um an ihn zu denken. Seine Mutter, Serpil Temiz-Unvar hat eine Bildungsinitiative gegründet mit dem Ziel, über Rassismus aufzuklären und ihn zu bekämpfen. Junge Menschen aus dem ganzen Land berichteten aus ihrer Arbeit für Demokratie im Namen Ferhats. Das hat viel Mut gemacht und die Hoffnung: Wir können in Vielfalt leben, ohne Ausgrenzung.

Woran ich denke, wenn ich ihre Namen nenne

Für mich war das sehr bewegend: Menschen mit so vielen verschiedenen Namen, die gemeinsam etwas bewirken: Respekt voreinander, würdevoller Umgang miteinander. So kann umgesetzt werden, was Gottes Wille für jeden von uns ist. 

Daran denke ich, wenn ich die Namen nenne:

Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtovic, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saracoglu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Paun, Mercedes Kirpacz, Kaloyan Velkov.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren