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Digitale Resilienz
Pixabay/Dean Moriarty

Digitale Resilienz

Ralf Schweinsberg
Ein Beitrag von Ralf Schweinsberg, Pastor der evangelisch-methodistischen Kirche in Gründau-Rothenbergen
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Anfang der 90er Jahre im Kino. Es läuft der neueste „Lethal Weapon“-Film mit Mel Gibson. Auf der Leinwand ein Hafen bei Nacht. Mel Gibson kauert sich hinter einem Container. Ein Profi-Killer schleicht sich von hinten an ihn heran, hebt die Pistole zum Schuss – da klingelt sein Handy! Mel Gibson fährt herum und erledigt den Angreifer. Das Publikum ist begeistert. Selber schuld, wenn man als Bösewicht so ein neumodisches Gerät mit sich herumtragen muss.

Faszieneirt von der neuenTechnik

Ich habe in diesem Moment in meine Jackentasche gegriffen und geprüft, ob mein Handy auch wirklich ausgeschaltet ist. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das Kino reagiert hätte, wenn mein Handy geklingelt hätte. Wie gesagt: Anfang der 90er Jahre. Ich war damals fasziniert von dieser neuen Technik. Jetzt konnte man von überall aus anrufen und angerufen werden. Zwar hielt der Akku gerade einmal vier bis fünf Stunden, und mit dem Handy anzurufen war so teuer, dass ich es fast nie tat. Aber darum ging es nicht. Ich konnte es, nur das zählte.

Meine Frau war damals nicht davon zu überzeugen. „Wozu brauchst du so ein Ding?“, hat sie gefragt. „Wenn du telefonieren willst, dann kannst du das zu Hause machen oder in der Telefonzelle. Ist doch komisch, auf der Straße oder im Bus auf so ein Gerät einzureden! Außerdem will ich nicht immer und überall erreichbar sein.“ Ich habe gesagt: „Aber schau, man kann sich auch Kurznachrichten schicken! Zum Beispiel, wenn man verabredet ist und sich verspätet.“ „Wozu?“, meinte meine Frau. „Einfach rechtzeitig losgehen!“

Heute wird das "mobile Endgerät" schon fast vorausgesetzt

Heute hat fast jede und jeder ein Handy. An vielen Stellen wird sogar ein „mobiles Endgerät“ ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Neulich musste ich bei der KFZ-Zulassungsstelle vor der Tür per Smartphone einen Termin vereinbaren, bevor ich hineindurfte. Das Handy verbindet. Wenn ich irgendwo allein unterwegs bin, kann ich an jemanden eine Nachricht schicken oder ein Foto posten. Schon fühle ich mich ein bisschen weniger einsam und mehr mit der Welt verbunden.

Das Handy, Fluch und Segen zugleich

Aber immer mehr merke ich: Das Handy schafft auch völlig neue Probleme. Es ist Fluch und Segen zugleich. Wenn ich mein Handy nicht finden kann, werde ich nervös. Da steckt doch mein halbes Leben drin! Ich bin abhängig geworden von diesem kleinen Gerät. Ich verbringe mehr Zeit damit, als ich will. Mein Smartphone schickt mir jede Woche einen Bericht über meine Bildschirm-Nutzungszeit. Ich erschrecke oft: Was?! So viele Stunden pro Tag habe ich auf das Ding geschaut. Ich komme mir dann nicht besonders selbstbestimmt vor. Ich mag Technik. Aber wie schaffe ich es, dass die Technik nicht über mich herrscht, sondern ich Herr über mich selbst bleibe? Wie erhalte ich meine innere Freiheit?

Musik

Manche der "Digital Natives" sehen ihren Umgang mit dem Smartphone kritisch

„Digital Natives“ nennt man die Generation, die mit Smartphone, Tablet und Internet aufgewachsen ist. Immer und überall online sein ist für sie selbstverständlich. Sie können damit bestens umgehen. Umso mehr überraschen mich die Ergebnisse einer aktuellen Studie. 72 Prozent der befragten Jugendlichen stufen ihre Smartphone-Nutzung kritisch ein. Sie sagen, dass sie „deutlich zu viel“ am Smartphone hängen und dass sie das stresst. Sie fühlen sich dadurch mehr und mehr fremdbestimmt.

Nicht mehr selbstbestimmt sein

Ich kenne das auch von mir selbst. Wenn mir langweilig ist, schaue ich mir kleine Filmchen auf dem Handy an. Einen nach dem anderen… und erschrecke, wenn ich auf die Uhr schaue und eine volle Stunde vergangen ist. Ich habe es gar nicht bemerkt. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, nicht mehr selbst zu bestimmen, sondern zu eine Art Spielball geworden zu sein. Nicht mehr ich entscheide, was und wie viel ich ansehe, sondern eine clevere App hat mich nicht mehr losgelassen. Und ich habe es nicht bemerkt. Das fühlt sich nicht gerade sehr frei an.

Widerstandsfähig werden gegen den Stress der digitalen Technik

Ich bin nach wie vor fasziniert von dieser Technik. Aber sie soll mir dienen und mir nicht ein schlechtes Gefühl von Unfreiheit geben. Ich bin in diesem Zusammenhang auf den Fachbegriff der „Digitalen Resilienz“ gestoßen. „Digitale Resilienz“ bedeutet, dass man eine seelische Widerstandsfähigkeit hat oder gewinnt gegenüber dem Stress, den die digitale Technik auslösen kann. Denn ständig neue Apps, neue Tools, neue Features, ständig auf immer mehr Kanälen kommunizieren, das stresst. Ich frage mich, wie ich diese digitale Resilienz erlangen kann. Wie finde ich ein gesundes Maß an Mediennutzung, das mich weiterbringt, statt mich fremd zu bestimmen?

Eine "aktive Gottesbeziehung" kann helfen

In der aktuellen Studie über digitale Resilienz werden einige Dinge aufgezählt, die dabei helfen. Unter anderem eine „aktive Gottesbeziehung“. Erstaunlich! Wer an Gott glaubt, soll besser mit den Stressfaktoren des digitalen Wandels umgehen können. Das hat mich überrascht. Aber dann habe ich gedacht: Stimmt. Das ist auch meine Erfahrung. Unter einer „aktiven Gottesbeziehung“ verstehe ich das Gegenüber, bei dem ich nach Hilfe suche, die Kraftquelle in meinem Leben. Wenn ich zu Gott bete, dann nehme ich mich raus aus dem sonstigen Geschehen. Ich nehme eine Auszeit von allem anderen – auch eine Auszeit von meinem Smartphone. Das gehört zu den wichtigsten Tipps für digitale Resilienz: Auszeiten einplanen.

Auszeiten nehmen

In einer Geschichte in der Bibel sorgt Jesus für eine Auszeit. Ein blinder Mann kommt zu ihm und bittet ihn um Hilfe. Um die beiden herum stehen viele Menschen. Sie wollen alle miterleben, wie Jesus heilt. Da nimmt Jesus den Mann und geht mit ihm weg von all den Schaulustigen. Es geht ihm nicht um die Show, sondern um diesen einen Menschen. (Markus 8,22-26)

Ich übertrage das auf meine Frage: Wie gewinne ich digitale Resilienz? Schon ein bisschen Abstand hilft mir. Ich muss nicht immer mitten im Getümmel der digitalen Medien sein. Ich muss nicht auf jede Nachricht sofort antworten, sondern ich entscheide: Was ist wichtig, was kann warten? Es stärkt meine innere Ruhe, wenn ich mir die Auszeiten nehme, die ich brauche.

Musik

"Was soll ich für dich tun?"

Wenn Menschen zu Jesus kamen und ihn um Hilfe gebeten haben, hat er sie oft gefragt: „Was soll ich für dich tun?“ (Markus 10,51) Was für eine Frage! Es ist doch klar, was zum Beispiel ein blinder Mensch von Jesus erhofft. Weiß Gott nicht alles? Warum fragt Jesus dann noch: „Was soll ich für dich tun?“ Vielleicht, weil diese Frage wichtiger ist als eine schnelle Antwort.

Ich habe mir überlegt, um was ich Jesus bitten würde, wenn ich ihm erzähle, wie es mir geht und wie ich mich oft als Spielball meiner digitalen Geräte erlebe, getrieben von immer mehr und immer schnelleren Eindrücken. Wenn mich Jesus heute zur Seite nehmen würde wie in den Heilungsgeschichten in der Bibel und mich fragt: „Was soll ich für dich tun?“, ich würde gerne antworten: „Ich möchte wieder sehen können. “Sehen, was mir wirklich guttut, und es dann auch umsetzen.

Die Zeit besser verteilen

Die meisten spüren es, wenn sie zu viel am Smartphone hängen. Sie spüren, dass ihnen eigentlich etwas Anderes guttun würde: weniger Zeit am Handy und die frei werdende Zeit sinnvoll füllen. Ich stelle mir das vor wie bei einer Waage mit zwei Schalen. Wenn ich immer nur Zeit in die Smartphone-Schale lege, dann hängt die Schale runter und die Waage ist aus dem Gleichgewicht. Wenn ich meine Zeit besser verteile und auch die andere Waagschale fülle, dann gewinne ich innere Balance.  

Das Handy einfach mal zu Hause lassen

Also schichte ich um. Es fängt mit Auszeiten vom Smartphone an. Dadurch gewinne ich Abstand, bekomme die Hände frei und kann den Blick auf etwas Anderes richten als immer nur auf das Display meines Handys. Den Sonntag nicht bis zum Anschlag füllen. Mein Handy beim nächsten Spaziergang einfach einmal zu Hause lassen. Oder Kontakte zu Menschen pflegen, die mir guttun, und mein Handy dabei stummschalten.

So bekommen die digitalen Medien wieder ihren richtigen Stellenwert in meinem Leben. Sie sind für mich wichtig. Aber ich will nicht, dass sie mich total im Griff haben. Ich brauche mein inneres Gleichgewicht und meine Freiheit für mich, für andere, für Gott.

 

 

Info: Die zitierte Studie „Digitale Resilienz in der Mediennutzung“ stammt vom VOCER Instituts für Digitale Resilienz (2022), https://digitale-resilienz.org/publikationen/digitale-resilienz-in-der-mediennutzung/

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