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Amazing Grace - ich war blind, jetzt sehe ich
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Amazing Grace - ich war blind, jetzt sehe ich

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt
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Es gibt Lieder, die gehen mir unter die Haut. „Amazing Grace“ ist so ein Lied. Vor zweihundertfünfzig Jahren wurde es komponiert und ist seitdem in mehr als 70 Sprachen übersetzt worden. Amazing Grace, erstaunliche Gnade, so übersetzt man das oft ins Deutsche. Für mich klingt das schön, aber etwas fremd. Ich will heute dem Menschen nachgehen, von dem dieses Lied stammt und was Gnade mit unserem Lebensgefühl und Lebensglück zu tun hat.

London vor dreihundert Jahren

Dafür reise ich in das London vor dreihundert Jahren. London war schon damals eine Großstadt: pulsierend von neuen Entdeckungen, laut, teuer, übervölkert, mit krassen Gegensätzen von arm und reich. Die Themse war eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt. Entdecker, Händler und Marinetruppen kamen im Hafen an und fuhren zu neuen Abenteuern wieder los.

John Henry Newton muß mit elf Jahren Seemann werden 

Dort wurde siebzehnhundertfünfundzwanzig John Henry Newton geboren. Sein Vater war Kapitän. Als John sechs Jahre ist, stirbt seine Mutter. Mit nur elf Jahren muss er Seemann werden. Ein Kind in einer rauen, groben Männerwelt. Er wurde zum Dienst in der Kriegsmarine gezwungen, rebellierte, floh, wurde wieder gefangen und ausgepeitscht. Später heuerte er auf einem Sklavenschiff an. Menschen aus Afrika wurden von ihren Familien und ihrer Heimat verschleppt, nach London transportiert, verkauft und weiter nach Amerika verfrachtet, damals noch eine englische Kolonie.

Auch auf diesem Schiff geriet John Newton in Streit. Sein Vater konnte ihn über einen befreundeten Kapitän aus dieser bedrohlichen Situation herausholen.

Mit Anfang Zwanzig Kapitän auf einem Sklavenschiff

Zurück in England erwarb der junge John Newton selbst das Kapitänspatent. Und musste nun selber ein Schiff steuern, das voll mit Sklaven war. Auf einer Überfahrt geriet es in einen schweren Sturm. John Newton war Anfang zwanzig und fürchtete um sein Leben. Das Schiff überstand das Unwetter einigermaßen heil. Aber danach war für den jungen Kapitän nichts mehr wie vorher.

Die Rettung aus Seenot: Amazing Graze

Er erlebte die Rettung als Eingreifen Gottes. Sein Schiff und er selbst mit der gesamten Besatzung, für die er verantwortlich war, wurden von Gott bewahrt vor Untergang und Tod, so sah er es.  Amazing Grace, erstaunliche Gnade. Und er hat gedichtet: „Was für eine große Gnade! Wie wunderbar das klingt! Dass einer wie ich, der alles falsch gemacht hat, gerettet ist. Ich war vollkommen verloren. Und ich bin gefunden. War blind. Und jetzt sehe ich.“

Musik

Ein Kirchenlied mit vielen berühmten Interpret*innen

Das Lied Amazing Grace hat Elvis Presley gesungen, Rod Steward und Céline Dion, um nur einige zu nennen. Dabei ist es schon vor zweihundertfünfzig Jahren entstanden: das Kirchenlied Amazing Grace. Es stammt von einem Kapitän mit einem großen Herz, John Newton. Was er erlebt hat, ließ ihn von Gottes großer Gnade singen. Zunächst arbeitete er weiter als Kapitän auf dem Schiff, das Menschen aus Afrika als Sklaven nach Amerika transportierte. Aber seit er den schlimmen Sturm überlebt hatte, war er auch mit Gott unterwegs. Er las die Bibel, lernte mehr über Gott und was Gott von den Menschen erwartet. Dann wurde Newton krank, bekam einen Schlaganfall. Er gesundete, aber auf einem Schiff konnte er nicht mehr arbeiten. Er bekam eine Stelle beim Zoll in Liverpool. Der Sklavenmarkt in Liverpool war damals der größte weltweit. Jeder wusste, was dort geschieht.

Vom Kapitän zum anglikanischen Pfarrer

Newton vertiefte seinen Glauben, nebenher studierte er Theologie, lernte Hebräisch und Griechisch und las die Bibel in den Originalsprachen. Mit fast vierzig wurde er Pfarrer der Anglikanischen Kirche. Acht Jahre später, im Dezember siebzehnhundertzweiundsiebzig, beschrieb er sein Leben mit den Worten dieses Liedes: „Amazing Grace!“ „’Twas grace … my fears relieved; Es war Gnade, die alle meine Ängste aufgelöst hat.“

Newton war in seinem Leben so viel Druck unterworfen. Hatte große Verantwortung und doch selbst Momente der Schwäche und Angst. Und erlebte, wie er trotzdem immer wieder eine neue Chance bekommen hat. Sein Glück war ein Geschenk Gottes, das glaubte Newton ganz fest. Amazing Grace, erstaunliche Gnade, nach allem, was er angestellt hatte.

Was ist Gnade?

Im Deutschen ist Grace gar nicht so einfach zu übersetzten. Was ist Gnade? Für John Newton war es zuerst und vor allem die Rettung vor dem Untergang, als sein Schiff in diesen schrecklichen Sturm geriet. Glück gehabt, würden wir vielleicht heute sagen. Aber dann kommen Fragen, die viele sich stellen, wenn sie etwas Gefährliches überstanden haben: Warum? Warum wurde ich bewahrt?

Zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall, in dem nichts Schlimmes passiert ist, der aber auch ganz anders hätte ausgehen können. Oder wenn man eine schwere Krankheit gut überstanden hat und das Leben weitergehen kann. Viele machen die Erfahrung, dass sich in ihnen dann etwas ändert. Es war doch nicht selbstverständlich, dass man überlebt hat. Man ist dankbar dafür. Und schaut vielleicht, wie es mit dem eigenen Leben weitergehen soll. Denkt öfter, das nun anderes wichtig ist. Wird aufmerksam, achtsam, liebevoll. Mehr als davor.

Ein Lied zum Dank für die Rettung

John Newton hat Gott für die Bewahrung gedankt. Und sein Leben geändert. Sein Lied Amazing Grace geht so weiter: „Es war Gnade, die mich gelehrt hat, Ehrfurcht zu haben. Und es war Gnade, die alle meine Ängste aufgelöst hat. Was für ein wertvoller Moment: Die Stunde, in der ich das zum ersten Mal verstanden habe.“

Musik

Amazing Graze - eine Hymne für viele unterdrückte Menschen

Amazing Grace wurde zu einem Kirchenlied, das in Gottesdiensten rund um den Erdball bis heute erklingt. Eine Hymne auch für viele unterdrückte Menschen. Der amerikanische Präsident Barack Obama stimmte es zweitausendfünfzehn an, bei der Trauerfeier für die Opfer des Anschlags in Charleston[i], bei dem neun Afroamerikaner von einem weißen Mann aus rassistischen Gründen getötet worden waren.

John Newton hat über sich nachgedacht, nachdem er im Sturm bewahrt wurde. Er war bis dahin kein Freiheitsheld und kein Freund der Nächstenliebe. Als Kapitän auf einem Sklavenschiff hatte er ja mitgewirkt bei Herrschaft und Gewalt. Offenbar konnte er aber nach dieser Bewahrung anderen gegenüber nicht mehr gleichgültig sein, weil er die Gnade Gottes in seinem nicht gerade mustergültigen Leben erfahren hat.

Durch Gottes Kraft auf einen neuen Weg

Als er später durch seine Krankheit aus der Bahn geworfen wurde, fand er die Kraft für einen neuen Weg, durch diese Kraft Gottes, die er Amazing Grace nennt, erstaunliche Gnade.

Sein Glaube führte ihn schrittweise zu mehr Mut und auch zu mehr Einsatz für Gerechtigkeit. Newton wurde Pfarrer und erzählte von der Liebe Gottes zu allen Menschen. In einem Brief an einen Freund[ii] hat er gesagt, wie ihm von Kindesbeinen an beigebracht worden ist, die zu bewundern, die in der Sprache der Welt große Kapitäne und Eroberer genannt werden. Inzwischen hat er die Kehrseite dieser Medaille begriffen. Er schrieb, die Eroberer brannten darauf, „Mord und Schrecken in jeden Teil des Globus zu tragen und durch die Entvölkerung von Ländern ihre eigenen Namen zu verherrlichen.“ Newton dagegen wünschte sich den Geist der Großherzigkeit, wie er ihn im Neuen Testament entdeckt hatte.

Newton hält eine Rede gegen Sklaverei und Sklavenhandel vor dem britischen Oberhaus

Newton war schon über sechzig, da wurde noch einmal der Sklavenhandel für ihn zum Thema. Siebzehnhundertneunundachtzig begann die Französische Revolution und forderte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In diesem Jahr hielt Newton eine Rede vor dem britischen Oberhaus. Schonungslos kritisierte er die Sklaverei und den Sklavenhandel. Es war eine mutige Rede, die Spuren hinterließ.  

Die Abschaffung der Sklaverei erlebt John Newton nicht mehr. Die Sklaverei wurde in England und allen seinen Kolonien erst achtzehnhundertdreiunddreißig abgeschafft. Das Lied von John Newton, dem Kapitän mit dem großen Herzen, wird heute noch gesungen, auch die dritte Strophe. Sie geht so: Durch viele Gefahren,Anstrengungen und Versuchungen bin ich hindurch gekommen. Es ist Gnade, die mich sicher so weit gebracht hat. Und Gnade wird mich auch nach Hause bringen. Amazing Grace!


[i] 17. Juni 2015 war der Anschlag, die Trauerfeier am 26.6.2015. Hier zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=idehHmvUNb8

[ii] John Newton 1763: A Review of Ecclesiastical History; zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/John_Newton

 (abgerufen am 15.12.2022)

 

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