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Mein Onkel Winfried
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Mein Onkel Winfried

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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Am Ende des Jahres hatte er immer Geburtstag, mein Onkel Winfried. Kurz vor seinem einundsiebzigsten Geburtstag ist er gestorben. Dass wir seinen Siebzigsten noch mit ihm feiern konnten, hat uns sehr gefreut. Denn er hatte Trisomie 21, oder Down-Syndrom, wie man heute korrekt sagt. Er ist noch im Zweiten Weltkrieg in Hannover geboren, und meine Großmutter musste ihn im Kinderwagen verstecken, damit er nicht umgebracht wurde. Dem nationalsozialistischen Regime galten Kinder mit Trisomie 21 als „lebensunwertes Leben“ - was für ein schreckliches Wort! Bereits in den 20er Jahren hatten der Mediziner Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding ein Buch mit dem Titel veröffentlicht: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Darin haben sie die Tötung solcher Kinder für notwendig und rechtmäßig erklärt. „Ballastexistenzen“ haben sie diese Kinder genannt. Damit war der nationalsozialistischen Todesmaschinerie der ideologische Boden bereitet.

Bei Gott gibt es kein „lebensunwertes“ Leben

Aber mein Onkel Winfried hatte durch die Sorgsamkeit meiner Großeltern überlebt. Als Kinder sind wir ihm oft begegnet. Immer wenn wir zu unseren Großeltern fuhren, war er auch da, er gehörte selbstverständlich dazu. Wir haben mit ihm spielen können, und es wurde immer lebendig, wenn er dabei war. Er konnte sehr emotional sein. Ich erinnere mich an die Beerdigung meines Opas. Da hat Winfried mitten in die Stille der Kirche hinein so laut geweint, dass es allen durch Mark und Bein ging. Und später wollte er überhaupt nicht von dem Sarg lassen. Es war auch nicht immer nur einfach mit meinem Onkel Winfried. Manchmal war er von zuhause weggegangen, und niemand wusste, wo er war. Alle waren dann besorgt, dass nichts passiert und er wieder heil zurückfindet. Auch wenn es manchmal nicht leicht war – wir erzählen in unserer Familie heute noch gern von Winfried. In den letzten Jahren seines Lebens hat er in einer betreuten Wohngemeinschaft gelebt mit lauter Frauen und Männern, die auch Trisomie 21 hatten. Dort haben ihn auch alle gern gemocht, und dort ist er auch gestorben.

Und plötzlich wurde es lebendig in der Kapelle

Zu seiner Beerdigung hatten wir uns zur Trauerfeier in einer kalten Friedhofskapelle versammelt und saßen still vor seinem Sarg. Dann kamen auch seine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner und setzten sich weit nach vorn. Es wurde auf einmal lebendig in der Kapelle eine Frau zeigte auf den Sarg und rief laut in die Stille hinein: „Da soll der Winfried jetzt drin sein. Das glaube ich nicht!“

Dankbar, wieviel Leben Onkel Winfried in unsere Welt gebracht hat

Der Ausruf dieser Frau ist für mich ein großartiges Bekenntnis zum Leben. Das Leben, das Gott uns schenkt, lässt sich nicht in einen engen Sarg einsperren. Zum Leben gehören Farben und Klänge, Lachen und Tränen, Liebe und Freundschaften, all das reicht bis in Gottes Himmel hinein. Bei Gott gibt es überhaupt kein „lebensunwertes Leben“. In der Bibel heißt es im Buch der Weisheit: „Gott ist ein Freund des Lebens“ (Weish 11,26), und ebenfalls: „Du liebst alles, was ist.“ (Weish 11,24) Am Ende der Trauerfeier haben wir alle gemeinsam „O du fröhliche“ gesungen. Immer wenn ich dieses Lied in diesen Tagen singe, denke ich dankbar an meinen Onkel Winfried zurück, und daran, wieviel Leben er in unsere Welt gebracht hat.

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