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O Heiland, reiß die Himmel auf!
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O Heiland, reiß die Himmel auf!

Dr. Annette Wiesheu
Ein Beitrag von Dr. Annette Wiesheu, Theologische Referentin des Bischofs von Mainz
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Zum Advent gehört für mich das Singen. Und mir ist dabei wichtig: Es sollen echte Adventslieder sein, nicht schon Weihnachtslieder, die das Jesuskind in der Krippe besingen. Ich mag besonders die Lieder aus früheren Jahrhunderten mit ihrer altertümlichen Sprache, die umso kraftvoller wirkt, weil sie so anders ist als unsere Alltagssprache.

Ein flehendes Rufen nach dem Heiland

Eines meiner Lieblingslieder ist „O Heiland, reiß die Himmel auf“. Das Lied hat einen eher düsteren Grundton, es eignet sich nicht unbedingt zum Singen bei einem gemütlichen Adventskaffee. Mich spricht es trotzdem sehr an. Das Lied ist ein einziges flehentliches Rufen nach dem Heiland, nach dem Erlöser. In eindrücklichen sprachlichen Bildern beschwört es das Kommen dieses Erlösers: Der Heiland, so heißt es in den ersten Strophen, soll doch „die Himmel aufreißen“, er soll „Tor und Tür“, „Schloss und Riegel“ abreißen und herabkommen. Die Wolken mögen aufbrechen und den König „ausregnen“. Und nicht nur von oben, aus dem Himmel, soll der Heiland kommen, sondern auch „von unten“ aus der Erde: „O Erd hervor dies Blümlein bring, o Heiland aus der Erden spring“ heißt es in der dritten Strophe. Und weiter: „Wo bleibst du, Trost, der ganzen Welt (…)  Komm! Ach komm! vom höchsten Saal / Komm tröst uns hie im Jammertal“.

„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“

Der Jesuitenpater Friedrich von Spee hat dieses Lied 1622 gedichtet. Es greift biblische Bilder auf, vor allem aus dem Buch des Propheten Jesaja im Alten Testament. Viele Jesaja-Texte sprechen von der Sehnsucht des Volkes Israel nach dem Kommen des Erlösers, des Friedenskönigs, der Israel befreit. Friedrich von Spee verwebt diese biblischen Bilder in seinem Lied – zu einer Zeit, als der Dreißigjährige Krieg tobt und Europa verwüstet. Ich stelle mir vor: Die Menschen damals konnten sich mit dem Flehen des Volkes Israel gut identifizieren, die Klagen und die Bitten sprachen ihnen aus der Seele. Und mir geht es heute nicht anders: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“ Diesen Satz singe ich mit vollem Herzen mit – und denke an den nahen Krieg in der Ukraine, an die vielen anderen Kriege und Konflikte auf der ganzen Welt, an Armut und Hunger. Und nicht nur die großen Probleme der Welt stehen mir vor Augen: Wohl jeder Mensch macht in seinem Leben Erfahrungen, die ihn seine Welt als „Jammertal“ empfinden lassen: der Abschied von einem geliebten Menschen, Streit in der Familie, Sorge um den Arbeitsplatz, eine Krankheit.

Die große Sehnsucht nach Trost und Erlösung

Was mich an diesem Lied so beeindruckt: Es ist die große Sehnsucht nach Trost und Erlösung, die darin zum Ausdruck kommt. Ja, das Lied zeichnet ein düsteres Bild der Gegenwart. Aber aus dem Flehen um das Kommen des Heilands sprechen gleichzeitig unerschütterliches Vertrauen und Hoffnung: An keiner Stelle wird auch nur ein Hauch von Zweifel angedeutet. Aus dem Lied spricht der feste Glaube: Der Heiland wird kommen! Er wird nicht ausbleiben, dieser Trost der ganzen Welt; er wird kraftvoll hervortreten und die Menschen „vom Elend zu dem Vaterland führen“, wie es in der letzten Strophe heißt. Nicht die Verzweiflung hat das letzte Wort, sondern die Hoffnung und das Vertrauen: Der Heiland kommt!

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