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Charlys Lächeln
GettyImages/ArtMarie

Charlys Lächeln

Ein Beitrag von Dr. Christine Lungershausen, Evangelische Pfarrerin, Eschborn
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Ich sitze im ICE, und der steht. Draußen geht ein Unwetter nieder. Der Sturm hat Äste von den Bäumen gerissen. Die blockieren die Bahnstrecke und müssen weggeräumt werden. Also warten wir, bis es weitergeht.

Ein Babylächeln

Im Sitz vor mir lugt ab und an ein Baby zwischen den Lehnen durch. Wenn sein Blick den meinen trifft, fängt er an zu strahlen. Ich lächele zurück und lüpfe kurz meine Maske, damit er mein Gesicht besser sehen kann.

Eine lange Reise

Für seine Eltern ist es eine anstrengende Fahrt, viel länger als geplant. Charly aber lächelt. Über Charly komme ich mit seinen Eltern ins Gespräch und erfahre: Er wird morgen ein Jahr alt. Während wir reden, ahnen wir nicht, dass wir diesen seinen allerersten Geburtstag gemeinsam erleben werden. Denn die Aufräumarbeiten auf den Gleisen ziehen sich hin. Erst irgendwann nachts um zwei Uhr erreichen wir Frankfurt.

Ein Babylächeln schenkt Freude

Das hätte nervenaufreibend und kräftezehrend sein können. War es nicht. Denn die Fahrt mit Charly hat mir etwas geschenkt: die innere Freude, das herzerfüllende Gefühl: Ein fremdes Baby strahlt mich an, greift nach meiner Hand und, nachdem die Mutter zustimmend genickt hat, halte ich ihm meinen kleinen Finger hin. Den wollte Charly dann auch nicht wieder loslassen. Er freute sich, dass jemand ihn sieht und sich mit ihm beschäftigt, und gab mir Freude zurück mit seinem Vertrauen und seinem Strahlen. Freude gibt der Seele neue Kraft.

Freude gehört zur Grundausstattung des Menschen

Ich frage mich: Wie würde die Welt aussehen, wenn wir Freude als innere Grundhaltung hätten? Freude gehört zu unserer Grundausstattung. Schon der gerade einjährige Charly hat jede Menge davon. Und sie drang zu mir durch, obwohl ich im Kopf drei Probleme gewälzt und zwei Sachen für die Arbeit vorbereitet habe. Freude gehört zu dem, was uns von Anfang an mitgegeben ist. Jedem. Jeder.

Freude braucht keinen Anlass

Freude hängt wenig ab von dem, was ich genau tue oder erlebe. Freude beschreibt, wie ich es erlebe. Als was ich es wahrnehme. Es geht um die pure Freude am Leben. Eine Freude, die keinen Anlass braucht. Den brauchte Charly zumindest nicht. Warten im stehen gebliebenen ICE ist erst einmal keine Ausgangssituation, die jubeln lässt. Er hat sie mit seinem Lächeln zu etwas Besonderem gemacht.

Unser Dasein ist Freude

Ich vergesse das leicht. Es gibt genug Grund, bedrückt zu sein. Und trotzdem glaube ich: Unser Dasein ist Freude. Und die Freude lässt sich finden. Ich rufe mir den Blick von Charly im Zugabteil in Erinnerung. Wie er mich anlächelt. Flugs schiebt sich ein Lächeln über mein Gesicht und das Gefühl macht sich breit: Ja, wir sind zur Freude geschaffen.

                                                                                                    

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