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Jesus und Peter Fechter
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Jesus und Peter Fechter

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt-Bockenheim
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Heute vor 60 Jahren wurde Peter Fechter an der Berliner Mauer erschossen. Er war ein lebensfroher junger Mann, der frei sein wollte. Am 17. August 1962 versucht der erst 18-jährige Bauarbeiter zusammen mit seinem Arbeitskollegen Helmut Kulbeik in den Westteil der Stadt zu gelangen. In der Berliner Zimmerstraße nahe dem ehemaligen Checkpoint Charlie überwinden sie den ersten Stacheldrahtzaun. Als sie an der Mauer ankommen, fallen Schüsse. Helmut Kulbeik kann über die Mauer klettern und entkommen. Peter Fechter wird angeschossen und bricht zusammen. Etwa eine Stunde lang liegt er da. „Helft mir doch!“, schreit er mehrmals. Im Krankenhaus stirbt er.

Eine gescheiterte Flucht

Seine gescheiterte Flucht löst weltweit großes Entsetzen aus. Die Medien berichten ausführlich. Es gibt sogar Filmaufnahmen von dieser Flucht. Ein Foto berührt mich besonders: das Titelfoto der Berliner Morgenpost am darauffolgenden Tag. Das Foto zeigt, wie zwei DDR-Grenzsoldaten und ein Volkspolizist den ohnmächtigen Peter Fechter wegtragen. Hinter dem Stacheldraht blickt ein anderer Soldat mit verzerrtem Gesicht in Richtung des amerikanischen Sektors.

Das Foto erinnert an die Kreuzabnahme Jesu

Der Berliner Historiker Christoph Hamann schreibt dazu: „Das Foto erinnert an die Stelle aus der Bibel, in der Jesus vom Kreuz abgenommen und ins Grab gelegt wird. Viele berühmte Künstler haben dieses Motiv gemalt.“[1] Ich kenne einige dieser Bilder. Sie wollten den Menschen Trost spenden und zeigen: Jesus hat für die gelitten und ist für die gestorben, die frei sein wollen. Gott ist solidarisch mit den Opfern von Verfolgung und Gewalt.

Der blutverschmierte leblose Körper von Peter Fechter liegt in den Armen der Grenzsoldaten

Ich lese diese Botschaft auch in dem Foto von Peter Fechter. Denn die Ähnlichkeiten sind frappierend. In der Kunst gruppieren sich um den Leichnam von Jesus herum immer verschiedene Menschen, die ihm nahestehen: seine Mutter Maria, Maria Magdalena und ein Mann namens Josef von Arimathia. Oft deuten sie auf Jesus und lenken den Blick in die Mitte. Bei dem Foto des an der Mauer ermordeten Peter Fechter liegt der blutverschmierte leblose Körper mit den Füßen nach oben in den Armen der Grenzsoldaten. Ihre Hände umgeben Peter Fechters Kopf wie einen Kranz. Sofort denke ich an die Dornenkrone von Jesus.

Und wie in den Gemälden zeigen zwei der Grenzsoldaten auf den leblosen Körper. Das unterstreicht, wie wichtig die zentrale Person ist: der gekreuzigte Jesus in der Kunst und der erschossene Peter Fechter auf dem Foto.

Der Tod von Peter Fechter steht stellvertretend für viele Menschen, die auf der Suche nach Freiheit ihr Leben lassen mussten

Die Parallelen zwischen dem Foto an der Mauer und den Gemälden unter dem Kreuz beschäftigen mich. Der Tod von Peter Fechter steht stellvertretend für viele Menschen, die auf der Suche nach Freiheit ihr Leben lassen mussten. Der Tod Jesu steht für viele Menschen, die Opfer von Hass und Gewalt werden. Die Bibel legt darin Trost, denn auf den Karfreitag, den Todestag Jesu, folgt das Osterfest, die Auferstehung Jesu.

Am 9. November 1989 fiel die Mauer

Heute wissen wir: Es kam der 9. November 1989. Der Tag, an dem die Mauer fiel und dort niemand mehr auf der Suche nach Freiheit sterben musste. Nur weil ich das weiß, sehe ich im Foto von Peter Fechter auch ein Stück Hoffnung. Die Hoffnung, eines Tages können alle Menschen in Freiheit so leben, wie es ihnen entspricht.


[1]zeithistorische-forschungen.de/2-2005/4512

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