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Einmal Linie 2 und zurück

Einmal Linie 2 und zurück

Sabine Müller-Langsdorf
Ein Beitrag von Sabine Müller-Langsdorf, Evangelische Pfarrerin, Zentrum Oekumene, Frankfurt
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„Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt…“ heißt es in einem Volkslied. Und es stimmt: In diesen Tagen machen sich viele Menschen auf in den Urlaub. Wir reisen, um Neues zu entdecken: Andere Landschaften, Menschen, kulinarische Geschmäcker. Offenbar brauchen wir ab und an den Abstand zum Gewohnten. Etwas Neues, das inspiriert und neuen Schwung gibt.

Als Kind die Welt entdecken

Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, aber ich weiß, was es mir bedeutet hat, die Welt zu entdecken. Meine Welt war damals sehr klein, denn ich war auch noch klein. Mein Radius war die Wohnung meiner Eltern, der Spielplatz neben den Garagen und die Wege zu den Omas. Die eine wohnte fünf Minuten Fußweg entfernt. Auf dem Weg lag eine Bushaltestelle. Linie Zwei, Endstation. Manchmal fuhr ich mit der Oma oder Mutter von dort aus in die Stadt. Aber ich wusste: der Bus fährt weiter. Und so gerne wollte ich da mal hin. „Weiter“. Meine Mutter rollte die Augen und sagte: „Wir müssen doch nur bis in die Stadt, zum Einkaufen. Warum weiter?“

Eine Busfahrt bis zur Endstation

Es war meine Oma, die eines Tages meinen Wunsch erfüllt hat. Wahrscheinlich waren wir zuvor mit dem Bus gefahren, und wahrscheinlich habe ich dann gesagt: „Noch mal, und bis zur anderen Endstation.“ Jedenfalls sprach meine Oma mit dem Busfahrer. Und dann kaufte sie eine neue Kinderkarte für den Bus und setzte mich hinein. Sie sagte: „Ich warte hier. Und hole dich wieder ab. Fahr einmal rum.“

Was für ein Glück. Was für eine Aufregung. Ich erinnere mich, dass ich direkt auf dem Platz hinter dem Busfahrer sitzen durfte. Ein Einzelsitz für ein kleines Mädchen. Unfassbar! Die Welt öffnete sich nach den vertrauten Stationen. Ich schaute gebannt aus dem Fenster. Die Stadt war größer als gedacht. Der Bus fuhr durch ein Industriegebiet mit großen Hallen, dann in einen kleinen Ort, der mir so anders erschien mit seinen Fachwerkhäusern und bäuerlichen Gehöften.

Irgendwo im Nirgendwo - die Entdeckung der Welt

Das Großartigste aber war die Endstation: irgendwo im Nirgendwo, eine grüne Wiese mit Wendehammer. Ich hatte es geschafft. Der Busfahrer machte den Motor aus, holte sich eine Stulle aus der Schachtel und machte eine Pause. Es war plötzlich sehr ruhig. Ich hörte Vögel zwitschern und schaute mich im leeren Bus um. Mein Gefühl war: Nur ich bin da. Und mir gehörte die Welt in diesem Augenblick. Ich hatte sie entdeckt. Für mich.

Die Sehnsucht nach Freiheit

Nach der Rückfahrt stand meine Oma winkend an der Endhaltestelle und nahm mich in die Arme. Ich sprudelte los, erzählte, und war stolz, dass ich es geschafft hatte, ganz alleine Bus zu fahren. Heute denke ich, dass meine Oma mir mit dieser Fahrt neben dem Welt-Entdecken noch einiges mehr eröffnet hat: die Sehnsucht nach Freiheit. Den Mut, über Grenzen zu gehen. Das Vertrauen: da wartet eine, die dich in die Arme nimmt, wenn du ankommst.

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