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Wer kennt schon die Wahrheit?
Bild: Jäger

Wer kennt schon die Wahrheit?

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer i. R., Kassel
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Als Pfarrer hatte ich früher in meiner Gemeinde einen festen Nachmittag als Sprechstunde. Ich saß dann in der Kirche und wartete, was oder wer da kommen würde.

Ein Vater beklagt sich über seinen Sohn

Eines Tages kam ein älterer Mann in die Kirche und wollte mit mir über seinen Sohn sprechen. Er fühlte sich von ihm vernachlässigt, erzählte mir, dass sein Sohn nie zu Besuch käme und in der letzten Zeit noch nicht einmal angerufen habe. Mit vielen Worten schilderte er mir dann das Drama einer gestörten Beziehung. Es war zu merken, wie einsam er sich fühlte, und seine ganze Enttäuschung packte er nun in klagende und auch anklagende Worte.

Der Sohn ist enttäuscht vom Vater

Einige Wochen später wollte es der Zufall, dass ich seinen Sohn kennenlernte. Er wollte sein Kind zur Taufe anmelden. In dem Gespräch ging es um die Paten und die Familie, und so kamen wir auch auf den Vater zu sprechen. Nun schilderte der Sohn den Konflikt, der die beiden getrennt hatte. Auch er war enttäuscht, aber sah die Schuld ganz beim Vater, weil dieser mit seiner Berufswahl nicht einverstanden war und das zu verstehen gegeben hatte. So hatten sich beide voneinander entfernt und litten beide darunter, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

In dem Konflikt hat jeder seine eigene Perspektive

Diese Begebenheit zeigt, wie schwer es ist, die Wahrheit zu umgrenzen. In der Auseinandersetzung zwischen dem Vater und dem Sohn hatte jeder seine eigene Perspektive. Und je nachdem, welche Haltung gerade eingenommen wird, verschiebt sich der Eindruck davon, was der Wahrheit entspricht. Wir Menschen können eben die Welt um uns herum nur mit den eigenen Augen sehen, mit den eigenen Ohren hören und mit den eigenen Gefühlen begreifen. Wir sehen alles wie durch eine Brille, die erst abgenommen werden muss, um sich der Wahrheit zu nähern.

Wahrheit ist eine Beziehungsfrage

Schon Pilatus hatte damals, als man ihm Jesu vorführte, die legendären Worte gesprochen: „Was ist Wahrheit?“ Pilatus sollte ein Urteil über Jesus fällen, er hatte die Argumente der derjenigen gehört, die Jesus anklagten und er hatte Jesus selbst zugehört. Aber nicht um diesen Zweifel, mit dem Pilatus sich von seiner Verantwortung drückt, geht es im Evangelium. Das ist nur Anlass für das Bekenntnis Jesu „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ (Joh. 14,6) Folgen wir diesen Worten, so wird klar: Die Wahrheit ist weder abstrakt noch absolut, sie ist eine Beziehungsfrage. Wir können den Weg und das Leben nicht davon trennen, was als wahr empfunden wird. Was wahr ist, erweist sich in den Bezügen zum Leben.

Einsicht durch Perspektivwechsel

Und das gilt auch für den Konflikt zwischen dem Vater und Sohn: Es geht dabei eben nicht um die Frage, wer Recht hat. Erst wenn beide die Brillen ihrer persönlichen Interessen und Kränkungen abnehmen und die Perspektiven wechseln, kann Einsicht entstehen. Eine Sicht, die dann wahr ist, weil sie dem Leben dient.

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