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Die eigene Filter-Blase mal verlassen
Pixabay/ Mohamed Hassan

Die eigene Filter-Blase mal verlassen

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Dora ist Mitte 30 und hat etwas Verrücktes gemacht. Sie hat ihren Freund verlassen, und das hippe Berlin gleich mit. Und sich ein Haus auf dem Land gekauft. Mitten in der Pampa in der Prignitz.

Von der Großstadt aufs Land

In der Corona-Zeit machen das doch viele, denkt sie. Sie will raus aus einem stressigen Berufsalltag in der Werbebranche und sehnt sich nach Ruhe und Idylle auf dem Land. Jetzt steht sie da mit einem Spaten und versucht, das riesige Grundstück urbar zu machen. Gemüse will sie pflanzen. Wenigstens Gemüse. Denn im verwahrlosten Haus sind nicht einmal Möbel.

Denken in eingefahrenen Rastern und Rollen

Dora ist die Hauptfigur in dem Roman „Über Menschen“ von Juli Zeh. Der ist letztes Jahr erschienen. Als Leserin nehme ich teil an Doras Gedanken und Gefühlen. Einem Denken in Rastern und Rollen, was sein darf und was nicht. Einem Denken, in dem ich mich sehr wiederfinde. Und das dort in dem fiktiven Dorf Bracken komplett durcheinandergerät.

Auf dem Dorf lassen sich Menschen nicht so leicht in Kategorien stecken

Vorher hat sie so viel gearbeitet, dass sie einsam war, ohne es zu spüren. In der Großstadt hat sie sich eigentlich wohlgefühlt, grün gewählt und gewusst, was richtig und was falsch ist. Jetzt trifft sie Menschen, die sich nicht so einfach in Kategorien stecken lassen. Tom, der Nachbar mit dem Blumengroßhandel und dem schwulen Freund, macht ihr klar: "In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen.“

Hinter einer hohen Gartenmauer verbirgt sich ein weiterer Nachbar, an den sie sich gewöhnen muss. Der heißt Gote, ist kahlgeschoren und stellt sich als „Dorfnazi“ vor. Er singt rechtsradikale Lieder und hat früher sogar nationalistische Parolen geschrien und Steine auf Ausländer geworfen.

Kann man über die krasse Ideologie des Nachbarn hinwegsehen?

Und trotzdem baut Gote Dora ein Bett und stellt heimlich Stühle in ihren Garten. Abends raucht er an der Mauer mit Dora eine letzte Zigarette. Dora weiß plötzlich nicht mehr, was sie tun soll: Ihn verachten und zurechtweisen? Oder über seine krasse Ideologie hinwegsehen?

Es gibt zu wenig Dialog zwischen den Lagern

Diese Frage ist eine äußerst aktuelle Frage. Es gibt natürlich Grenzen, die einen Dialog unmöglich machen. Aber mir scheint oft: Es gibt zu wenig Dialog und zu viele einzelne Meinungsgruppen, die sich nur unter sich bewegen. Kann ich damit leben, dass andere Menschen etwas ganz Anderes denken als ich, dass sie sich in einer anderen parallelen Welt bewegen? Glaube ich, die bessere Weltsicht zu haben, ohne ein wirklich offenes Gespräch zu suchen? 

"Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?"

Jesus hat da einen ziemlich guten Ratschlag, finde ich. Er selbst ist unvoreingenommen auf Menschen unterschiedlicher Überzeugungen zugegangen. Jesus sagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“

Also: Erst einmal den Blick auf mich selbst und die eigenen Fehler und Fehleinschätzungen richten. Das gemeinsame Mensch-Sein in den Vordergrund stellen.

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