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Ballettschuhe im Fluchtrucksack
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Ballettschuhe im Fluchtrucksack

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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100 Millionen Menschen sind gerade auf der Flucht. Das kann ich mir gar nicht richtig vorstellen. Mehr Menschen, als in Deutschland leben.

Das Einzelschicksal verschwindet hinter dieser großen Masse

Aber es ist so: Nach Schätzungen des UNHCR, des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen ist diese unvorstellbare große Zahl von Menschen gerade jetzt auf der Flucht. Vor Konflikten, Kriegen, Verfolgung und Hunger. Hinter der großen Masse verschwindet oft das einzelne Schicksal.

Was nimmt man mit auf die Flucht?

Im März haben zwei Journalisten einige von ihnen befragt. Es sind Geflüchtete aus der Ukraine. Sie haben sie nach Dingen gefragt, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben. Dinge, die ihnen besonders am Herzen liegen. Tanja, eine Ökonomin, 45 Jahre alt, spricht über eine schöne Armbanduhr. Sie hat ein paar Kratzer Tanja erzählt: „Diese Uhr gehört mir seit 2014, dem Jahr der Proteste auf dem Maidan. Sie erinnert mich daran, was ich überstanden habe, und daran, dass ich stark bin. Die Armbanduhr zeigt noch die ukrainische Zeit an.“

Dinge, die einem am Herzen liegen

Eine Mutter hat für ihren elfjährigen Sohn seine Boxhandschuhe mitgenommen. Ein junger Mann hat seinen Lieblingsbecher eingesteckt, den Becher, von der Schwester geschenkt. Eine Frau hat Ballettschuhe mitgenommen. Sie hat mit 43 Jahren angefangen, Ballett zu tanzen. Sie sagt: „Es war einfach zu schwer zu entscheiden, was man mitnimmt, wenn man nicht weiß, ob man jemals zurückkehren wird.“

Was wäre mir wichtig?

Die Geschichten haben mich sehr berührt. Hier ist plötzlich jede einzelne Fluchtgeschichte greifbar. Wieviel Leid steckt hinter jedem einzelnen von 100 Millionen Flüchtlingen? Welchen Gegenstand würde ich wohl mitnehmen? Ein paar Erinnerungsfotos? Oder zwei Bücher, die mir wichtig sind?

Jedem geflohenen Menschen mit Wohlwollen und Respekt begegnen

Das Mindeste, was ich jetzt tun kann: Jedem einzelnen geflohenen Menschen mit Wohlwollen und Respekt begegnen. Das fordert auch die Bibel.

Im Alten Testament beauftragt Gott sein Volk, Ausländer unter sich aufzunehmen, mit diesen Worten: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“ (3. Mose 19,33f.). Das Wort für „Fremder“ ist in der Bibel übrigens gleichbedeutend mit „Gast“.

Jeder Mensch ist nur Gast auf Erden

Auch ich bin ein Fremdling, ich bin ein Gast auf Erden. Nicht nur die Geflüchteten sind es. Diese Einsicht ist wichtig. Auch wenn ich an einem bestimmten Fleck auf dieser Erde geboren wurde: Ich besitze diesen Ort noch lange nicht. Auch andere Gäste sollen hier leben dürfen.

Träume. Lebe. Liebe

Julia, eine 21-jährige Studentin, hat ihr Notizbuch mit auf die Flucht genommen. Sie sagt: Auf meinem Notizbuch steht: „Träume. Lebe. Liebe. Anfang des Jahres bekam ich endlich die Zusage für den Studienplatz. Dann kam der Krieg. Träumen, leben und lieben will ich – trotz des Krieges, vor dem ich und so viele andere fliehen mussten.“

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