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Gott hat kein Bild von mir
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Gott hat kein Bild von mir

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Ich kannte sie nur von Ferne. Neulich saßen wir an einem Tisch. Und kamen ins Gespräch. Sie ist wohl Ende vierzig und hatte vor vier Jahren einen Schlaganfall. Der beeinträchtigt sie beim Gehen und Essen. Manche Bewegungen gehen nicht. Man muss sich damit abfinden, dachte ich, während wir redeten. Sie aber redete anders. Denn als ich sie nach einer Weile fragte, wie sie mit diesen Einschränkungen zurechtkommt, schaute sie mich groß an. Und sagte dann: Ich denke nicht an Einschränkungen. Ich denke an das, was mir möglich ist. Ich lebe alle Freiheiten, die ich habe.

"Ich lebe alle Freiheiten, die ich habe"

Ich habe mich ein bisschen geschämt, als ich das hörte. Geschämt für meine dumme Frage mit den Einschränkungen. Ja, ich habe nur an mich gedacht. An das, was mir möglich ist und ihr vielleicht nicht. Aber sie hat einen anderen Blick. Sie hat ihn sich erarbeitet, könnte man vielleicht sagen. Sie schaut nicht auf das, was ihr jetzt fehlt. Sie schaut auf das, was sie kann. Und sagt mir lächelnd: Ich lebe alle Freiheiten, die ich habe.

Nicht nur auf das schauen, was felt und nicht mehr geht

Den Blick möchte ich haben. Auf das sehen, was ich kann oder noch kann. Und lieber nicht nur auf das sehen, was ich vielleicht nicht mehr kann. Ich merke das ja. Wenn man älter wird, geht manches nicht mehr oder nur noch eingeschränkt. Da ist es wieder, das Wort „eingeschränkt“. Es stimmt ja auch. Manchmal muss man sich einschränken. Aber ich muss mich davon nicht bestimmen lassen. Wenn ich nur auf das schaue, was mir alles fehlt, werde ich leicht missgestimmt oder gleich richtig bitter.

Sich den menschlichen Blick bewahren

Wie anders klingt da: Ich lebe alle Freiheiten, die ich habe. Auch wenn sie vielleicht klein oder weniger geworden sind als früher. Gott hat ja kein Bild von mir, dass ich nur so oder aussehen dürfte oder dies oder jenes unbedingt können müsste. Gott geht es nicht darum, was ich kann oder nicht kann, sondern dass ich mir einen freundlichen Blick bewahre, den menschlichen Blick. Und mich möglichst über das freue, was ich kann. Auch wenn es gering ist. Eins geht doch immer, denke ich: Dass ich auf das schaue, was mich dankbar macht.

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