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Der Blick eines anderen Menschen
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Der Blick eines anderen Menschen

Dr. Susanne Nordhofen
Ein Beitrag von Dr. Susanne Nordhofen, Ehemalige Leiterin eines katholischen Gymnasiums in Königstein/Taunus
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Der Künstlerin Marina Abramovic` ist in New York ein besonderes Spektakel gelungen. Tausende kampierten sogar nachts vor dem Museum für Moderne Kunst, um morgens gleich reinzukommen. „Die Künstlerin ist anwesend“ hieß der schlichte Titel der Performance. Was war da los gewesen?

Ihren ruhigen Blick aushalten

Marina Abramovic saß täglich viele Stunden in einem leeren Raum. Eine ganze Woche lang. Ihr gegenüber stand ein leerer Stuhl. Wer sich traute, konnte dort Platz nehmen. Weiter nichts. Die Künstlerin setzte sich den Blicken ihres Gegenübers aus, aber galt das auch umgekehrt? Sie schaute ihm ruhig ins Gesicht. Ein Film hält die Reaktionen des Publikums fest. Einige Zuschauer wirkten konzentriert und nachdenklich, andere alberten mehr oder weniger verlegen herum. Wer geht schon ins Museum, um zuzuschauen, wie sich jemand anschauen lässt? Wer ihren ruhigen Blick aushielt, wurde schließlich still; einige fingen sogar an zu weinen. Sie hatten ihre Rolle gewechselt und waren plötzlich Teil eines Kunstprojekts. Das auszuhalten erforderte von Marina Abramovic enorme Kraft, vor allem, als ihr ehemaliger Lebensgefährte unerwartet vor ihr Platz nahm.

Wenn Kunst und Leben eins werden

Diese Aktion hat neuerdings unerwartet Aktualität bekommen Die Künstlerin hat sie Mitte April für einen Tag wiederholt. Den Erlös der Eintrittskarten spendet Marina Abramovic für die Opfer des Ukrainekrieges. Kunst und Leben werden eins.

In meinem Gesicht zeigt sich mein ganzes Leben

Warum fasziniert mich diese Aktion? Von Georg Christoph Lichtenberg stammt der Spruch: „Die unterhaltendste Fläche auf der Erde ist die vom menschlichen Gesicht.“ Abramovic`s Kunstaktion trifft genau diesen Punkt. Wieviel Leben, wie viel Erfahrung, welche Charakterlinien haben sich in ein Gesicht eingegraben! Wann bin ich eigentlich zuletzt so intensiv und vorbehaltlos angeschaut worden? Der Blick einer anderen Person bringt mich dazu, mich bewusst selber wahrzunehmen und in mich hineinzuschauen. Ich bekomme Selbstbewusstsein - ganz wörtlich.

Jetzt sehen wir nur rätselhafte Umrisse

Für das Wort Gesicht kann man auch „Antlitz“ oder „Angesicht“ sagen. Diese altmodischen Ausdrücke zeigen mir: Es geht nicht nur um die Vorderseite des Kopfes. Der Mensch hat als Ebenbild Gottes eine besondere Würde. Niemand kann sich von Gott ein Bild machen. Der Apostel Paulus hat einmal Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis verbunden. Er schreibt: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ Beides, Erkennen und Erkanntwerden, gibt’s also vollständig erst in Zukunft!

Der Herr wende dir sein Angesicht zu

Doch heute schon freue ich mich über die Zusage des ältesten biblischen Segens:

„Der Herr segne und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende dir sein Angesicht zu und schenke dir Frieden.“

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