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Muss immer alles perfekt sein?
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Muss immer alles perfekt sein?

Dr. Annette Wiesheu
Ein Beitrag von Dr. Annette Wiesheu, Theologische Referentin des Bischofs von Mainz
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„Oh, bei dir muss immer alles perfekt sein!“ – Diesen Satz bekomme ich oft von meinen Kindern zu hören. Sie beschweren sich, wenn sie sich nochmal die Haare kämmen sollen, damit sie auch wirklich ganz ordentlich aussehen. Wenn sie den Brief an die Großeltern nochmal abschreiben sollen, weil er etwas verschmiert war. Oder wenn ich beim Essen darüber lamentiere, dass es noch besser schmecken würde, wenn ich die Zwiebel länger angebraten hätte.

„Das ist ungerecht!“ möchte ich meinen Kindern entgegenhalten. Was ist falsch daran, die Dinge gut zu machen? Ist es nicht lobenswert, sein Bestes zu geben? Und müssen wir nicht dankbar sein, dass es Menschen gibt, die sich das zum Lebensziel gemacht haben? Dem Piloten, der das Flugzeug sicher steuert und landet. Der Chirurgin, die präzise das Skalpell führt. Dem Bauingenieur, der dafür sorgt, dass Brücken und Gebäude sicher stehen.

Wo liegt die Grenze?

So sehr ich mich verteidigen möchte – eine leise Stimme in mir sagt: Ein wenig haben meine Kinder recht. Das Streben nach Perfektion mag oft notwendig und wünschenswert sein, doch es gibt auch ein Zuviel des Guten. Aber wo liegt die Grenze? Wann schlägt Sorgfalt um in einen sinnfreien Perfektionismus? Und: In welchen Situationen lohnt sich ein solches Streben nach dem Optimum? Profitieren andere Menschen wirklich davon, wenn ich mich immer um das beste Ergebnis mühe? Im Fall des Piloten, der Chirurgin, des Bauingenieurs ist das sicherlich so. Und Sorgfalt kann anderen ja auch Wertschätzung vermitteln: Einem Text oder auch einer musikalischen Aufführung merkt man eben an, ob sie hingeschludert sind – oder sorgfältig ausgeführt.

"So langsam wirst du vernünftig"

Aber das übersteigerte Bedürfnis nach Perfektion kann auch behindern. Weil ich Zeit investiere, die mir an anderer Stelle fehlt, und mein Bemühen eigentlich keinen tieferen Sinn hat. Und Perfektionismus kann den Blick auf das Eigentliche verstellen und das Verhältnis zu anderen Menschen stören: Das Meckern über die zu wenig gebratenen Zwiebeln verdirbt die Atmosphäre beim Essen. Über der Diskussion um die perfekte Frisur gerät fast das Abschiedsbussi zu kurz. Und die Großeltern freuen sich über den Brief der Enkelkinder – auch wenn die Schrift etwas verwischt ist.

Und noch etwas: Überschätze ich mich nicht auch, wenn ich meine, immer alles perfekt machen zu müssen oder zu können? Vom Volk der Navajo in Nordamerika wird erzählt: Sie weben in jeden Teppich einen kleinen Fehler hinein zur Erinnerung: Auf der ganzen Welt gibt es nichts Vollkommenes von Menschenhand.

Das übe ich jetzt im Alltag, immer wieder: nicht perfekt sein müssen. Und mein Sohn sagt: „So langsam, Mama, so langsam wirst du vernünftig.“

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