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Das Gefühl der Endlichkeit
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Das Gefühl der Endlichkeit

Uwe Groß
Ein Beitrag von Uwe Groß, Katholischer Diakon, Pfarrei St. Peter und Paul, Wiesbaden
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„Zum Leben gehört das Gefühl der Endlichkeit. Erst die Begrenztheit gibt einem den Impuls, den Tag zu nutzen.“ Dieses Zitat stammt von Walter Jens, der heute 99 Jahre alt geworden wäre. Er ist 2013 gestorben und war ein bedeutender deutscher Schriftsteller, Rhetorik-Professor und engagierter Christ in der Friedensbewegung. „Zum Leben gehört das Gefühl der Endlichkeit.“

Da konnte ich der Frage nach der Endlichkeit nicht mehr ausweichen

Eigentlich denke ich nicht so gerne über meine Endlichkeit nach und will am liebsten auch nicht daran erinnert werden, weil es mich eher traurig macht. Mir genügt es auch, dass ich beruflich ein- oder zweimal die Woche auf den Friedhof in Wiesbaden fahre, um Menschen aus meiner Kirchengemeinde zu beerdigen. In vielen Fällen sind es sehr alte Menschen, die ich meistens gar nicht näher gekannt habe. Mein Verhältnis zu den Verstorbenen hat daher eine gewisse Distanz. Ich versuche den Trauernden Trost und Sicherheit beim Abschied zu geben. Dann aber ist vor einem halben Jahr meine Mutter gestorben. Und da habe ich gespürt: Es ist etwas anderes, wenn ein Mensch stirbt, der einem viel bedeutet hat. Dann bin ich selbst betroffen und kann der Frage nach der Endlichkeit nicht ausweichen.

Wäre ein endloses Leben nicht auch unendlich langweilig?

Walter Jens schreibt: „Erst die Begrenztheit gibt einem den Impuls, den Tag zu nutzen.“ Sofort kommen mir Phantasien in den Kopf: Was wäre, wenn ich unendlich leben könnte? Wären dann meine Entscheidungen nicht egal? Könnte ich nicht zu jedem Zeitpunkt auch alles wieder genau ganz anders machen? Würde ich mein Leben noch ernst nehmen? Wäre ein unendliches Leben vielleicht nicht auch unendlich langweilig? Ich finde, es lohnt sich, darüber nachzudenken. Und ich meine, mein begrenztes Leben zwingt mich dazu, Entscheidungen zu treffen, Antworten zu geben, Position zu beziehen. Und das bedeutet doch auch im letzten: frei zu sein. Sich für das eine und gegen das andere auszusprechen. Mit meinem Ich für etwas zu stehen und deswegen auch nicht für alles zu haben zu sein.

Die Begrenztheit bringt mich dazu, Tage sinnvoll zu nutzen  

Es gibt viele Tageskalendersprüche, die sich damit beschäftigen, dass wir nur das Jetzt, das Heute gestalten können. Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern, und die Zukunft kennen wir noch nicht. „Carpe diem“: Pflücke oder nutze den Tag, ist einer von diesen Kalendersprüchen. „Den Tag nutzen“. Klar, ich gehe nicht in jeden Tag mit dem Gedanken: Wie mache ich das Beste heute aus dem Tag? Die meisten Tage sind klar strukturiert und haben einen vorhersehbaren Ablauf. Und ich gehöre auch nicht zu denen, die alles optimieren wollen: private und dienstliche Termine. Bei mir kann auch was dazwischenkommen. Trotzdem tut es mir gut, wenn ich mir darüber im Klaren bin, wie die nächsten Tage verlaufen sollen. Es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit und der Sinnhaftigkeit. Dass ich eben das tue, was getan werden muss oder was ich gerne tue. Ich denke nicht viel über die Endlichkeit nach, und das ist auch gut. Aber ich versuche meinem Alltag Struktur zu geben. Das gibt mir ein gutes Gefühl und macht mir Mut.

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