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Zwölf Arten zu beten
2015jer / Wikipedia

Zwölf Arten zu beten

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Am Fuß des Ölbergs in Jerusalem gibt es eine Grotte, die vor langer Zeit in den Felsen geschlagen worden ist. Christen haben diese Höhle irgendwann zu einer kleinen Kapelle erweitert. An dieser Stelle, an der sich vor 2000 Jahren einmal ein Garten mit Olivenbäumen befunden hat, soll nämlich Jesus zusammen mit seinen Jüngern in der Nacht vor dem Passah-Fest Unterschlupf gesucht haben. Es ist die Nacht des Verrats, die Nacht in der Jesus gefangen genommen wird. Jesus hatte sich dorthin zurückgezogen und zu seinen Jüngern gesagt: Bleibt hier, wacht und betet mit mir!

Die Höhlenkapelle am Fuß des Ölbergs

Heute sieht die Kapelle im Felsen noch immer so aus, als hätte man nur ein paar Bänke in die alte Höhle gestellt, dazu einen schlichten Altar mit Kerzen. Es gibt keinen Schmuck. Die Pilger, die den Weg hierher gefunden haben, schauen auf die nackten Felswände.

Ein Gemälde mit den betenden Jüngern

Aber eine Besonderheit weist die Höhlenkapelle doch auf. An der einen Wand hängt nämlich ein altes Gemälde. Es ist schon sehr mitgenommen und die Farben ausgeblichen. Man muss genau hinschauen, um die Gestalten darauf zu erkennen. Aber dann wird es plötzlich sehr deutlich: Die Jünger sind darauf abgebildet, und alle sind im Gebet vertieft.

Jeder Jünger ist in einer anderen Gebetshaltung dargestellt

Ich mag das Bild sehr gerne, obwohl es – rein künstlerisch betrachtet - gar nicht so gut gemalt ist. Aber es zeigt etwas ganz Besonderes: Alle Jünger sind in unterschiedlicher Gebetshaltung dargestellt. Jeder betet anders. Ein Jünger hat die Hände in den Schoß gelegt, der nächste hat die Handinnenflächen aufeinandergelegt und hält sie vor seiner Brust. Ein Jünger verbirgt sein Gesicht, ein anderer hat den Kopf erhoben. Jede Gebetshaltung ist einmalig.

Beten ist keine Routine und folgt keiner Vorschrift

Für mich hat das Gemälde eine tiefe Aussage: Ein Gebet ist immer sehr persönlich, nichts ist daran normiert. Von Anfang an muss sich jeder Mann und jede Frau selbst die Form suchen, die passt. Die einen falten die Hände, andere strecken sie offen aus. Wieder andere führen die Hand zum Herzen. Manche knien, manche sitzen oder stehen. Das Beten, so ist auf diesem Bild in der Höhle in Jerusalem zu sehen, ist immer einmalig. Es ist keine Routine und folgt keiner Vorschrift.

Judas ist nicht dabei

Als ich das Bild zum ersten Mal sah, fiel mir auf, dass es nur elf Jünger abbildet. Judas ist nicht dabei. Er, der Verräter, ist zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg, die Soldaten zu holen. Dem Maler war es offenbar wichtig, in seine Darstellung kein falsches Gebet aufzunehmen. Er wollte zeigen, dass die Gebärde wohl beliebig ist, wenn nur die innere Haltung aufrichtig ist. Obwohl Judas fehlt, sind auf dem Gemälde insgesamt zwölf Gebetshaltungen zu sehen. Denn in der Mitte steht Jesus. Er streckt seine Arme aus und hält die Handinnenflächen offen nach oben. Es ist nicht eindeutig, ob zum Gebet oder zum Segen. Aber beides geht ja oft ineinander über.

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