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Wir brauchen Hoffnungsbilder
Bild: medio.tv / Dellit

Wir brauchen Hoffnungsbilder

Sabine Kropf-Brandau
Ein Beitrag von Sabine Kropf-Brandau, Evangelische Pröpstin, Sprengel Hanau-Hersfeld
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Ich war ein kleines Mädchen im Alter von 5 Jahren. Da starb ganz plötzlich mein Vater. Ich war unendlich traurig. Zur Beerdigung durfte ich nicht mit. Aber Tage später ging meine Mutter mit mir zum Grab. Sie nahm mich fest in die Arme und sagte: „Hier unten liegt der Papa.“

„Dann hast du mich belogen! Du hast gesagt, er wäre im Himmel“

„Dann hast du mich belogen! Du hast gesagt, er wäre im Himmel“, entgegnete ich ihr. Eine Weile waren wir beide still. Dann fragte mich meine Mutter: „Träumst du manchmal?“. „Ja“, sagte ich. „Siehst du, dann bist du auch in deinem Bett und gleichzeitig ganz woanders.“ Ich habe das damals nicht so genau verstanden, aber ich fühlte mich getröstet. Der Papa liegt im Grab und ist doch auch im Himmel. 

„Du kannst nicht allein von dem leben, was vor Augen ist“

Erst viel später ist mir klar geworden, was mir meine Mutter damals mitgegeben hatte:
„Du kannst nicht allein von dem leben, was vor Augen ist. Wir alle brauchen den Blick darüber hinaus.“ 

Wir brauchen Träume, Hoffnungsbilder, Visionen. Ohne sie können wir nicht leben. Wir brauchen Hoffnungsbilder gerade angesichts von Tod, Trauer und Leid. Christinnen und Christen begehen am heutigen Tag den Ewigkeitssonntag. Vielen ist er besser bekannt als „Totensonntag“.

 Am Totensonntag besuchen Trauernde den Friedhof 

Da gehen Menschen zu den Friedhöfen und Gräbern. Sie möchten sich nochmal von den Verstorbenen des letzten Jahres verabschieden und an sie denken. Viele gehen auch dort hin, obwohl der Abschied schon Jahre zurück liegt. Es ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr und an ihm heißt es Abschiednehmen.

Vor unseren Augen sind die Bilder von Gräbern. Bilder von einem leeren Platz. Bilder einer Gemeinschaft, die unwiderruflich zerstört ist. Nichts und niemand wird diese Menschen, deren Verlust uns besonders vor Augen steht wieder bringen. Manche Wunden sind noch ganz frisch. Der brennende Schmerz der Trauer vergeht erst mit der Zeit.

Niemand muss sich seiner Trauer schämen

Menschen sind traurig. Sie brauchen sich ihrer Trauer und ihrer Tränen nicht zu schämen. Diese Gefühle gehören zu unserem Leben. Sie sind wichtig, sie sind menschlich. Und es ist nicht gut und nicht heilsam sie zu verdrängen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ein geliebter Mensch hat es verdient, dass man um ihn weint und trauert. 

Musik: Maurice Ravel, Pavane pour une infant defunte 

Ja, jeder Mensch hat es verdient, dass jemand um ihn weint und trauert.

Und daneben brauchen wir Träume, nicht, um die Trauer zu vergessen, sondern als Trost in der Trauer.

Um Trauer zu verarbeiten brauchen wir Träume

Wir brauchen die Träume. So wie die Christen der ersten Jahrhunderte, die ihren Glauben nur unter größten Gefahren leben konnten. Ihnen drohte Verfolgung, Folter und Tod. 

Für sie und für alle, die wie sie bedrückt und bedrängt sind, hat Johannes seine Vision aufgeschrieben:

Bibeltext: Offenbarung 21,1-3

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; (Off 21,1-3)

Eine Vision, die tröstet

Eine große Vision, ein Hoffnungsbild, das bewegt und tröstet. Wie sie es wohl hören, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, heute am Ewigkeitssonntag? 
Es ist nicht bloß ein Traum und es ist kein billiges „Alles wird gut“. Die Erfahrung von Leid wird nicht verschwiegen.

„Der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“, sagt Johannes. Das deckt sich wohl mit der Erfahrung und der Stimmung vieler, die am Ewigkeitssonntag zu den Gräbern gehen.

Musik: J.S. Bach, Sinfonia „Ich steh mit einem Fuß im Grabe“  

Erfahrungen mit Abschiednehmen

„Das ist das Ende, alles ist aus“. Viele Menschen haben im vergangenen Kirchenjahr diese Erfahrung gemacht. Da ist ein geliebter Mensch gestorben. Da hat Corona oder eine andere Erkrankung eine Lücke gerissen, da hat ein Unfall einem das Liebste genommen. Da fehlt nun der Ehepartner, da gibt es keine Mutter, keinen Vater mehr. Da ist durch den Tod eines Kindes eine nie verheilende Wunde entstanden. Und damit ist eine ganze Welt voll Träume und Pläne vergangen.

Mancher Schmerz dauert lang

Andere haben nicht im vergangenen Kirchenjahr einen Toten begraben müssen, sondern schon vor längerer Zeit. Der Schmerz ist geblieben. 

Trauer braucht Zeit, viel Zeit. Mindestens ein Jahr sagt man. Manchmal viel, viel länger und manche Menschen kommen nie ganz über den Abschied hinweg.
Der Tod macht uns sehr traurig. Viele Tränen sind geweint worden im vergangenen Jahr - beim Abschied von Menschen. Ihr Tod macht uns ärmer und einsamer.
Viele Tränen sind geweint worden. Und das aus gutem Grund. 

Johannes schaut in seinem Traum weiter. Er sieht: 

Bibeltext: Offenbarung 21,4

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das erste ist vergangen.

Gott wird abwischen alle Tränen. Tränen gehören zur Trauer dazu. Sie dürfen sein. Trauer darf sein und wir dürfen sie zeigen. Das ist mir ganz wichtig. Und darum sind solche Tage wie heute ganz wichtig. 

Denn auch davon erzählt der Ewigkeitssonntag. Da können die Tränen offen gezeigt werden. 

Worte, die nicht helfen

Oft schämt man sich ja deshalb oder bekommt sogar zu hören, dass es nun doch mal gut mit der Trauer wäre und man ins Leben zurückfinden müsse. Ich habe die Mutter vor Augen, die vor einigen Jahren ihren Sohn verlor. Wie oft bekommt sie das von guten Freunden zu hören. „Nun freue dich doch mal wieder deines Lebens, du holst ihn auch mit deiner Traurigkeit nicht zurück.“ Welch armseligen und hohlen Worte, wenn das Herz doch immer noch vor Trauer schreit.

Trost nicht als Vertröstung

Und doch höre ich auch die Worte des Johannes. Trost ist möglich. Und Trost ist etwas ganz anderes als Vertröstung. Ist etwas ganz anderes als Vergessen.

Johannes schenkt uns eine wunderbare Hoffnung. Gott selber will unsere Tränen abwischen. Und Leid und Geschrei und Schmerz werden ein Ende haben. 

Tränensaat ist Hoffnungssaat

Tränensaat ist Hoffnungssaat. Auch das ist eine Erfahrung, die Menschen durchaus machen. Gerade in der Zeit der Trauer erfahren viele oft auf vielfältige und erstaunliche Weise Hilfe und Trost. Da sind Menschen, die Anteil nehmen. Sie hören zu, sie halten die Tränen aus, und sie machen Mut. Da sind Worte und Lieder, die weiterhelfen. Da ist manchmal, schwer zu beschreiben, ganz deutlich die Erfahrung: Gott ist mir nah. Es gibt Trost auch in der Trauer, gerade in der Trauer.
Wer überwindet, sagt Johannes, wird es alles ererben und ich werde sein Gott sein und er wird mein Kind sein.

Musik: Heinrich Schütz, „Die mit Tränen säen

Auch die Trauer muss überwunden werden

Wer überwindet.... Auch die Trauer muss überwunden werden. Das geschieht nicht von allein. Das bedeutet Arbeit. Wenn ich etwas überwinden will, muss ich mich anstrengen. Es geht einfach nicht von allein. Ich muss aktiv werden.

Was heißt das für die Trauer?

Wichtig ist, die Trauer nicht zu verdrängen oder zu überspielen. Wir müssen sie bewusst zulassen und bewusst gestalten. Deshalb gibt es einen Tag wie den Heutigen, den Totensonntag. Er ist wie Sand im Getriebe, das wir nicht allzu schnell im Alltag weiterlaufen, als wäre nichts geschehen. Er hilft uns, uns bewusst zu erinnern und die Trauer auszuhalten. 

An Menschen erinnern, die wir verloren haben

Ich möchte ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer Mut machen, sich an ihre Verstorbenen heute zu erinnern. Denken sie an die Menschen, die sie verloren haben. Vielleicht kommen da Geschichten in ihnen hoch. Geschichten zum Lachen und zum Weinen. Da entstehen Bilder, wertvolle und kostbare Erinnerungen. Dietrich Bonhoeffer hat es in wunderbare Worte gekleidet: „Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.“

Erinnern ist wertvoll

Erinnern ist wertvoll. Und wenn sie dabei lachen müssen, dann tuen sie es. Und wenn die Tränen kommen, dann weinen sie. Wenn ich als Pfarrerin Menschen einige Wochen nach der Beerdigung eines geliebten Menschen besucht habe, dann wurde bei diesen Besuchen oft geweint und genauso oft gelacht. Das ist heilsam. 

Sterben, Tod und Trauer sind große Tabus in unserer Gesellschaft. Es liegt an uns selbst, Wege zu finden, damit zu leben. So zu leben, dass sie uns nicht dauernd ängstigen oder gar zerstören.

„Wer überwindet, wird es alles ererben“, sagt Johannes.

Gottvertrauen - ein Erbe unseres Glaubens

Er meint damit das Ererben des Glaubens: Ich kann Gott vertrauen. Das ist ein wichtiges Erbe, gerade im Blick auf unseren eigenen Tod. Denn die, die heute betrauert werden und deren Gräber besucht werden, die sind uns nur vorausgegangen. Wir alle werden den gleichen Weg gehen. Wir alle werden sterben. Das ist das Einzige, was uns allen gewiss ist. Deshalb ist es gut und sinnvoll, beizeiten an den Tod zu denken und sich darauf vorzubereiten.

Bibeltext: Offenbarung 21,1 ,3 ,5 und 7 

Wer überwindet, der wird es alles ererben und ich werde sein Gott sein und er wird mein Kind sein. (Off 21,7)

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, sagt Johannes, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen. (Off 21,1

Und Gott wird bei den Menschen wohnen und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein. Siehe, ich mache alles neu. (Off 21,3 und Off 21,5)

Eine bewegende Vision

Eine bewegende Vision, die uns eines deutlich macht: Das Vergehen des ersten Himmels und der ersten Erde ist kein abruptes Ende. Es folgt keine völlige Neuschöpfung. Es ist eher ein Übergang. Das Alte vergeht und geht über in etwas Neues.

So ist es mit der Trauer. Irgendwann kann sie vergehen und übergehen in neuen Lebensmut und neue Hoffnung. So werden Menschen wieder am Leben teilhaben. Nicht als etwas völlig Neues, das das Alte nicht mehr kennt, sondern als einen Übergang. Dieser Übergang ist als eine neue Stufe des Lebens zu verstehen. Sie müssen wir akzeptieren, so schwer es einem auch fällt. Und dabei helfen auch keine guten Ratschläge von Freunden, sondern Menschen, die uns auf diesem steinigen Weg begleiten. Und es braucht seine Zeit, manchmal eine ganz, ganz lange Zeit. Übergänge sind doch nicht leicht.

Und so ist es auch mit dem Tod. Auch der Tod ist nicht das totale Ende, sondern der Übergang in ein neues Leben. 

Musik: Benedetto Marcello, Concerto für Oboe und Streicher d-moll, I.: Andante e spiccato 

Der Tod als Übergang in ein neues Leben

Ein Übergang in ein neues Leben. Schwer vorstellbar, weil wir die engen Grenzen unseres Denkens so selten verlassen. Und doch ist es etwas, worauf wir als Christen hoffen dürfen. Von Gott her und zu ihm hin sind alle Dinge, in ihm sind alle Gegensätze vereint, in seiner Liebe verbunden die Lebenden und die Toten.

Der Tod ist nicht das Letzte, sondern eine neue Stufe des Lebens in Gottes Gegenwart. Wir können uns nicht vorstellen, was uns jenseits des Todes erwartet. Aber wir können gewiss sein, nicht das Ende, sondern ein Übergang: ein neuer Himmel und eine neue Erde.

Johannes hat es für uns gesehen, geträumt, damit wir teilhaben an seiner Hoffnung. Einmal wird eine Welt sein, in der es keinen Tod mehr gibt, keine Not, kein Geschrei und kein Leid. Gott selbst wird bei den Menschen wohnen und alles neu machen.

Am Ende der tiefen Todesnacht steht neues Leben

Das ist nicht Hoffnung gegen den Augenschein. Das ist Hoffnung von Ostern her. Am Ende der tiefen Todesnacht steht neues Leben. Und es tut so gut sich daran zu erinnern. Erinnern an den geliebten Menschen, der nun nicht mehr da ist, aber den wir hoffen, eines Tages wiederzusehen. Erinnern wird so zum Trost und hält die Hoffnung wach. Das hat mir meine Mutter damals mitgegeben. Das war heilsam in allem Schmerz. Der Papa liegt im Grab, aber er ist auch im Himmel. Wir können nicht allein von dem leben, was vor Augen ist. Wir brauchen den Blick darüber hinaus. 

Wir brauchen Hoffnungsbilder

Wir brauchen Hoffnungsbilder gerade angesichts von Tod, Trauer und Leid.

Das war mir tröstende Wirklichkeit angesichts des toten Vaters in der Erde. So habe ich es damals gehört in den Armen meiner Mutter und so dürfen sie es heute hören. Es gibt ein Wiedersehen mit all den Menschen, die uns vorausgegangen sind. Es gibt einen neuen Himmel und eine neue Erde. Und bis es so weit ist, hilft die Erinnerung. Darum mag ich den Ewigkeitssonntag. Vielleicht treffen wir uns am Friedhof. Ich werde da sein.    

Amen

Musik: J.S. Bach, „Schafe können sicher weiden“, arr. für Klavier 

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