Trauern und Hoffen im November
Heute ist Volkstrauertag. Ich muss an ein kleines Dorf in Bayern denken. Neun Jahre habe ich in der Nähe in unserem Kloster gelebt und dort oft am Sonntag zum Gottesdienst den Pfarrer vertreten. Es war vor fünf oder sechs Jahren im November, eben am Volkstrauertag: Ich war erstaunt, wie viele Menschen in der Kirche waren, auch junge Leute. Die Küsterin sagte mir, es sei doch Volkstrauertag und nach der Messe zöge man zum Kriegerdenkmal. Dort solle ich ein Gebet sprechen. Gottlob hatte sie in einer Schublade noch den Text von letztem Jahr. Wir zogen also nach dem Gottesdienst zum Kriegerdenkmal: Es sprach der Bürgermeister, eine Blaskapelle spielte mehrere Stücke, auch „Ich hatt‘ einen Kameraden“, und ich sprach das Gebet.
Diese Gedenkfeier berührte mich ganz besonders
Während der Gedenkfeier erkannte ich, warum so viele Leute mit dabei waren. Auf dem Kriegerdenkmal standen nicht nur die Namen von jungen Männern aus dem Dorf, die in den beiden Weltkriegen zwischen 1914 und 1918 und 1939 und 1945 gefallen oder vermisst waren. Dort stand auch der Name eines jungen Bundeswehrsoldaten, der erst zwei Jahre zuvor in Afghanistan gefallen war. Der Krieg, der Tod eines Soldaten – des Sohnes, des Bruders, des Klassenkameraden, des Sportfreundes – war auf einmal ganz nah gekommen. Dadurch bekamen auch die schon verblassenden Namen der beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts wieder Farbe und Gestalt. Ich hatte schon in mehreren Dörfern und auch bei uns in Limburg an Gedenkfeiern am Volkstrauertag teilgenommen, aber hier berührte mich dieses Gedenken jetzt ganz besonders.
Die Aufforderung zu Versöhnung, Verständigung und Frieden
Heute finden in vielen Orten in unserem Land solche Gedenkfeiern statt. Die zentrale heute Nachmittag im Plenarsaal des Bundestages in Berlin. Hauptredner neben unserem Bundespräsidenten wird dort der Staatspräsident von Lettland, Egils Levits, sein. Ich bin mir sicher, dass da beide Aspekte des Volkstrauertages zum Ausdruck kommen. Es geht um die Kriegstoten und um die Opfer von Gewaltherrschaft und es geht um die Mahnung, oder besser noch die Aufforderung zu Versöhnung, Verständigung und Frieden. Denn welchen Sinn soll das Gedenken an die Toten haben, wenn man nicht Lehren aus ihrem Sterben zieht für das Hier und Heute?
Lehren ziehen aus dem Sterben der Kriegstoten für das Hier und Heute
Wie komplex und mühsam das ist, wissen wir aus den Erfahrungen der Bundeswehr in Afghanistan und den anderen Ländern, wo sie heute noch im Einsatz ist. Und wir wissen es aus der derzeitigen Situation in Europa: Uns alle macht der Ukrainekrieg hier das Leben schwer, und wir kriegen ohnmächtig mit, wie viele Menschen dort leiden und sterben.
Ein Aufbegehren gegen das sinnlose Sterben durch Krieg und Terror
Der Toten von Krieg und Terror, Gewaltherrschaft und Rassismus zu gedenken, und zwar gemeinsam zu gedenken, wie wir das am Volkstrauertag tun, hat viele Gründe. Sie sind eher persönlich, wenn jemand aus meiner Familie oder Umgebung sein Leben lassen musste. Und sie sind gleichsam gemeinsam und öffentlich, weil dieses Gedenken ein Aufbegehren ist gegen das sinnlose und nutzlose Sterben durch Krieg und Gewalt. Deshalb ist dieses Gedenken zugleich auch eine starke Mahnung zu Versöhnung, Verständigung und Frieden. Diese Mahnung muss sich dann aber auch umsetzen in konkretem Handeln in Politik und Gesellschaft, vor allem in vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen Menschen, Gruppen und Staaten.
Denn ohne Vertrauen kein Frieden!
Musik 1: aus Felix Mendelssohn Barholdy, Verleih uns Frieden gnädiglich (CD: Luthers Lieder, Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius, CD 2, Track 13, (max.) 4.10 min).
Viele frühe Christen glaubten, das Ende der Welt sei nahe
Im katholischen Sonntagsgottesdienst heute kommt der Begriff „Volkstrauertag“ offiziell nicht vor. Ich hoffe, dass er in Predigt und Fürbitten berücksichtigt wird. Von Krieg, Angst und Gewalt ist dennoch die Rede. Die Gottesdienste im November – man könnte sagen: typisch für diesen Monat – sind geprägt von Endzeitstimmung. Als in der jungen Kirche vor 2000 Jahren die biblischen Texte niedergeschrieben wurden, glaubten viele – nicht allein Christen –, das Ende der Welt sei nahe. Da zog sich ein Faden der Angst durch das Leben der Menschen. Und man sah allüberall Vorboten dieses nah erwarteten Niedergangs.
…aber das Ende kommt noch nicht sofort
Das Evangelium am heutigen Sonntag in den katholischen Gottesdiensten stammt aus dem 21. Kapitel des Lukas-Evangeliums. Ich lese Ihnen einige Zeilen aus diesem Evangelium vor:
„Als einige darüber sprachen, dass der Tempel (in Jerusalem) mit schön bearbeiteten Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei, sagte Jesus: Es werden Tage kommen, an denen von allem, was ihr hier seht, kein Stein auf dem anderen bleibt… Sie fragten ihn: Wann wird das geschehen und was ist das Zeichen, dass dies geschehen soll?
Er sagte: gebt acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist da. – Lauft ihnen nicht nach!
Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken. Denn das muss als Erstes geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort.“
Auch damals: Unsicherheit und Ängste…
Jesus spricht in seiner Rede dann noch von Erdbeben, Seuchen, Hungersnöten, schrecklichen Dingen, auch Verfolgungen und Misstrauen und Nachstellungen sogar innerhalb der Familien. Das Evangelium endet mit den Worten:
„Ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden. Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.“
…aber auch Hoffnung und Zuversicht
Unser Text berichtet also von Unsicherheit und Ängsten, aber auch von Hoffnung und Zuversicht. Als er niedergeschrieben wurde, so sagen Fachleute, war der Tempel in Jerusalem bereits durch die Römer zerstört. Das war für die Juden eine Katastrophe und auch für viele Christen. Eben ein Zeichen des nahenden Endes. Und ein Grund für tiefe Verunsicherung. Der Tempel, das Symbol für Gottes Nähe unter den Menschen, war weg.
Das Katastrophenszenario aus der Bibel wiederholt sich
Manches aus dem Katastrophenszenario der Bibel damals kennen wir auch heute: Menschen laufen „falschen Propheten“ – wie wir sagen – nach, andere sehen Naturkatastrophen als Vorboten des Weltuntergangs an, Verschwörungstheorien und Fake News werden weiter transportiert. Es gibt viel Angst und Verunsicherung in Gesellschaft und Kirche.
Wenn wir sterben, erleben wir das Ende unserer Welt
Ich selbst habe aus Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen noch nie den Schluss gezogen, dass Gott seine Welt im Stich lässt oder dass gar der Weltuntergang bevorsteht. Krisen und Katastrophen erlebt doch jede Generation. Ich bin überzeugt: ich erlebe das Ende der Welt nicht. Aber ich werde einmal sterben. Hoffentlich lange noch nicht, aber irgendwann wird es sein, das ist sicher. Dann erlebe ich für mich das Ende der Welt. So geht es uns allen. Wenn wir sterben, erleben wir das Ende der Welt. Und die Bibelstelle, die heute in den katholischen Gottesdiensten gelesen wird, konfrontiert uns mit der Frage: Wir gehe ich, wie gehen wir auf dieses Ende zu?
Musik 2: Henry Purcell, “In the midst of life we are in death” aus der “Funeral Music on the Death of Queen Mary” (CD: Purcell, Full Anthems & Organ Music, Music on the Death of Queen Mary Oxford Camerata / Jeremy Summerly, Track 15, (max.) 4.02).
Die Bibel malt in dunklen Farben, aber auch in lichtvoller Hoffnung
Menschen sind verunsichert; sie haben Angst vor der ungewissen Zukunft, vor Tod und Ende. Die Bibel beschreibt das in drastischen Bildern. Und sie bezieht dabei auch die Situation der Verfolgung mit ein, die damals, als die Texte niedergeschrieben wurden, viele Christen erleben mussten. Sie hatten also allen Grund zu Zweifel und Mutlosigkeit. Und das gibt es ja auch heute. Wir sind von Krieg und Krisen umgeben, ganz persönlich und als Gemeinschaft. Ich will die bedrückenden Krisen unserer Zeit nicht klein reden. Ich nenne als Stichworte nur Demokratie, Energie, Klima und durchaus auch Glaube und Kirche. Aber das Evangelium als Frohbotschaft verpflichtet mich regelrecht, nicht bei dem zugegeben dunklen Blick auf die Realität stehen zu bleiben und dann in Mutlosigkeit zu versinken. Die Bibel malt zwar mit dunklen Farben, aber sie endet mit lichtvollen und mutmachenden Pinselstrichen. Und die will ich wahrnehmen und weitergeben und Linien ins eigene Leben ziehen.
Lasst euch nicht erschrecken!
Da ist zwar von Hass und Verfolgung der Jüngerinnen und Jünger Jesu die Rede, aber dann folgt der Satz „Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden.“ Dieses Motiv mit den Haaren gibt es in der Bibel öfters. Mehrfach wird gesagt, dass Gott sogar die Zahl der Haare auf unserem Haupt kennt (vgl. Lukas 12,7). Diese Zusage wird verbunden mit dem Wort „Fürchtet euch nicht!“ Eben im Evangelium hieß es: „Lasst euch nicht erschrecken!“ Der kleine Satz von den Haaren, die nicht gekrümmt werden, will Mut machen, weil er sagt: Gott kennt mich, ja jede und jeden, die ihm vertrauen; er kennt und begleitet ihr Leben. Und Leben, das von Gott begleitet ist, ist nicht sinnlos oder vergeblich. Denn dahinter steht seine Liebe.
Eine Botschaft, die ich mir immer wieder erarbeiten muss
Ich denke, die Leute damals haben die Botschaft dieses kleinen Satzes erkannt, eine Botschaft, die ich mir heute immer wieder neu erarbeiten muss. Das gleiche gilt für den nächsten Satz, den Schlusssatz des Bibeltextes heute: „Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.“ Die Lutherbibel übersetzt: „Seid standhaft und ihr werdet das Leben gewinnen.“
Was bedeutet hier „standhaft bleiben“?
Was meint hier das Wort „standhaft bleiben“? Ich denke: treu im Glauben und im Vertrauen in die Zukunft. Das ist nicht immer leicht bei den vielen Fragen und Zweifeln, die uns heute umtreiben. Wenn ich an das Leben der Kirche denke, kann „standhaft-bleiben“ ja nicht bedeuten: Ich beharre stur auf meiner Meinung. Solche Sturheit und Rechthaberei gibt es in Kirche und auch in unserer Gesellschaft. Und das macht das Leben nicht immer leicht. Andererseits bewundere ich Leute, die einen festen Standpunkt haben und ihn klug und auch gewinnend vertreten. Was meint „standhaft-bleiben“?
Sich bewegen und doch verwurzelt sein
Mit fällt Hilde Domin ein mit ihrem Gedicht „Ziehende Landschaft“. Die ersten Zeilen lauten: „Man muss weggehen können / und doch sein wie ein Baum: / als bliebe die Wurzel im Boden, / als zöge die Landschaft und wir ständen fest.“
Die täglichen Herausforderungen durch meine Wurzeln im Glauben bestehen
Ja, ich sage es mal so: es ist dieses Doppelte. Das meint wohl auch Jesus in seiner Rede. Es gibt diese Treue im Glauben an und im Hoffen auf Gott. Menschen sind verwurzelt in echtem Gottvertrauen. Und zugleich ist da auch der Alltag: Ich bin herausgefordert durch neue Situationen und Begegnungen. Ich muss mich neuen Fragen stellen. Hilde Domin hat einmal gesagt: „Mensch zu sein, das heißt in der Liebe wurzeln.“
Durch den Halt der Liebe Gottes können wir Verunsicherung aushalten
Ich denke da an die Liebe des Schöpfers zu seinen Geschöpfen. Christinnen und Christen wissen sich trotz mancher Frage in der Liebe Gottes verwurzelt, können Verunsicherung und Nöte aushalten und auch die ständig bohrende Frage nach Sterben und Tod. Eine Frage, die gerade im November viele bewegt, da wir in besonderer Weise unserer Toten gedenken.
Musik 3: Henry Purcell, “Thou knowest, Lord, the secrets of our heart” aus der “Funeral Music on the Death of Queen Mary” (CD: Purcell, Full Anthems & Organ Music, Music on the Death of Queen Mary Oxford Camerata / Jeremy Summerly, Track 20, 2.30).
Unsere Toten sind nicht vergessen
Heute ist Volkstrauertag. Und heute geht es im katholischen Gottesdienst um das Ende des Lebens. Beide Motive wirken dunkel. Und doch sind sie nicht ohne Licht. Der Volkstrauertag sagt: Unsere Toten sind nicht vergessen. Ihr Sterben darf nicht sinnlos sein; es muss uns Lebenden Mahnung, ja Verpflichtung sein zu Frieden, Versöhnung und Verständigung. Wer immer dazu die Macht hat, muss an vertrauensbildenden Maßnahmen arbeiten.
Zu wissen, dass Gott uns Menschen nicht im Stich lässt
Und das Sonntags-Evangelium sagt: Ja, es gibt Krisen und Katastrophen in der Welt und in deinem Leben. Man kann sie als Vorboten des Endes deuten. Das muss aber nicht sein. Es gilt, mit ihnen zu leben im Vertrauen, dass Gott uns Menschen nicht im Stich lässt, dass Jesus Christus die Seinen begleitet in Zeit und Ewigkeit. Ich bin nicht allein, wir sind nicht allein. Solches Vertrauen verändert nicht die Wirklichkeit, aber es schenkt Mut, Zuversicht und manchmal auch Tatkraft.
Denn auf dich hoffen wir und vertrauen dir unsere Sehnsucht an
Davon spricht ein Gebet, das ich in einer Broschüre des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge gefunden habe. Damit möchte ich meine Gedanken an diesem Morgen abschließen:
Guter, menschenfreundlicher Gott, du liebst das Leben und hast die Schöpfung als Lebenshaus für alle geschaffen. Du willst, dass wir das Leben haben und es in Fülle haben. Dich bitten wir:
Angesichts der Trümmer von Krieg und Gewalt – Lass uns nie die Hoffnung verlieren und schenke uns Kraft zu Wiederaufbau und Neuanfang.
Angesichts der zahllosen Kriegstoten – Tröste die Trauernden in ihrem Schmerz und trockne die Tränen der Hinterbliebenen.
In den Trümmern von Krieg und Gewalt – Sei du bei allen, die sich um Gerechtigkeit und Frieden mühen, und stärke die, die sich für ein Ende von Gewalt und Krieg einsetzen.
Auf den Schlachtfeldern dieser Welt – Lass die Toten nicht endgültig tot sein, lass die Opfer nicht auf ewig Opfer sein.
Denn auf dich hoffen wir, auf dich bauen wir, dir vertrauen wir unsere Sehnsucht an.
Musik 4: Johann Sebastian Bach, Dona nobis pacem aus der h-Moll-Messe (CD: J.S. Bach, Messe in h-Moll, Gächinger Kantorei Stuttgart, Freiburger Barockorchester, Hans-Christoph Rademann, CD 2, Track 16, 2.58 min).