Beitrag anhören:
Draußen vor der Tür
Bild: pixabay

Draußen vor der Tür

Dr. Paul Lang
Ein Beitrag von Dr. Paul Lang, Diakon und Lehrer für Latein, Musik und Religion in Amöneburg
Beitrag anhören:

Der arme Lazarus

In der Heiligen Schrift, im Lukas-Evangelium, erzählt Jesus seinen Zuhörern die folgende Geschichte:

»Es lebte ein reicher Mann. Er trug einen Purpurmantel, Kleider aus feinstem Leinen. Tag für Tag genoss er das Leben in vollen Zügen. Aber vor dem Tor seines Hauses lag ein armer Mann. Lazarus hieß er. Sein Körper: voller Geschwüre. Gerne hätte er seinen Hunger mit den Resten vom Tisch des Reichen gestillt. Aber es kamen nur die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.

Dann starb der arme Mann, und die Engel trugen ihn in Abrahams Schoß. Auch der Reiche starb und wurde begraben.  Im Totenreich litt er große Qualen. Als er aufblickte, sah er in weiter Ferne Abraham und Lazarus an seiner Seite. Da schrie er: ›Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir! Bitte schick Lazarus, damit er seine Fingerspitze ins Wasser taucht und meine Zunge kühlt. Ich leide schrecklich im Feuer!‹

Doch Abraham antwortete: ›Kind, erinnere dich: Du hast deinen Anteil an Gutem schon im Leben bekommen – genauso wie Lazarus seinen Anteil an Schlimmem. Dafür findet er jetzt Trost, du aber leidest. Außerdem liegt zwischen uns und euch ein tiefer Abgrund. Selbst wenn jemand wollte, könnte er von hier nicht zu euch herüberkommen und umgekehrt.‹  Da sagte der Reiche: ›So bitte ich dich, Vater: Schick Lazarus doch wenigstens zu meinen fünf Brüdern. Er soll sie warnen, damit sie nicht auch an diesen Ort der Qual kommen!‹ Aber Abraham antwortete: ›Sie haben Mose und die Propheten: Auf die sollen sie hören!‹ Der Reiche erwiderte: ›Nein! Nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie ihr Leben ändern.‹  Abraham antwortete: ›Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören – dann wird es sie auch nicht überzeugen, wenn jemand von den Toten aufersteht.‹«.“

Längst nicht alles gesagt

Hier könnte man die Geschichte auf sich beruhen lassen: Es scheint alles gesagt. Der Arme wird entschädigt, womöglich belohnt, der Reiche bestraft. Dieses knappe Ergebnis erinnerte dann ein wenig an Karl Marx und seine Kritik am Christentum: „Ihr vertröstet auf das Jenseits. Und das verhindert notwendige Reformen im Hier und Jetzt.“

Aber nein: Genau das passiert in dieser Erzählung Jesu nicht: Der im Jenseits angesiedelte Teil der Geschichte ist reine Spekulation. Es geht um das Diesseits. Im Blickpunkt Jesu steht auch nicht etwa der Arme. Lazarus nennt Jesus ihn. Der Name bedeutet so viel wie „Gott hilft“. Jesu Adressat ist der Reiche. Und der trägt keinen Namen. Er ist einfach nur nach seinem Wohlstand benannt. Ein reicher Jedermann. Jeder von uns. Sie und ich.

Fast wie im Märchen werden diese Namen und Bezeichnungen als Stellvertreter für grundsätzliche Lebenssituationen verwendet. Und wie im Märchen scheint auch der Inhalt überzeitlich: lehrend, pointiert, vereinfacht, ein wenig übertrieben. So kann deutlich werden, um was es dem Erzähler geht: Gelingendes Leben - hier und jetzt. Überwindung sozialer Gegensätze. Utopie oder Möglichkeit?

Bei dem, der diese Geschichte erzählt, eigentlich keine Frage.

Musik: Patrick Doyle – “Non Nobis Domine” - Simon Rattle, City of Birmingham Symphony Orchestra 

Dreifacher Kontrast - dreifache Aufgabe

Die Erzählung vom Reichen und dem armen Lazarus: Ein überzeitliches Drama.

Der Erzähler Jesus inszeniert dieses Sozialdrama auf dreifache Weise. Mit drei Elementen macht er deutlich, wo Konfliktpotenzial besteht.

Da ist zunächst das „Wo“. Jesus stellt zwei Orte gegenüber: Das Innere des Hauses. Hier lebt ein Reicher. - Und der Bereich draußen vor seiner Tür. Hausinneres bedeutet Geborgenheit und Schutz. Schutz vor allem, was menschliches Leben bedrohen kann. Das Hausinnere steht auch für Gemeinschaft, für Familie und Freunde, für Beisammensein. Draußen, vor dem Haus - das bedeutet das Fehlen von all dem. Draußen ist Schutzlosigkeit, Ausgeliefertsein, Alleingelassensein.

Im Miteinander von Menschen gibt es etliche Facetten dieses „Draußen Seins“: Vielleicht ist jemand Außenseiter am Arbeitsplatz, in der Schule oder Universität, in der Nachbarschaft. Armut, Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen und manches andere können Ausschluss bewirken - und Schutzlosigkeit. Das Draußen vor der Tür kennt vielerlei Gestalt und Gründe.

Dass es dieses Draußen gibt, ist in der Lazarus-Geschichte nicht das Problem. Problematisch ist, dass der Reiche, der im Hausinneren lebt, etwas Wesentliches nicht wahrnimmt: Dass es da nämlich überhaupt ein Draußen gibt. Dass da jemand vor seiner Tür liegt, kümmert ihn nicht.

Ein ähnliches Gegenüber bildet das „Wer“ der Geschichte, die Jesus erzählt. Zwei Personen werden betrachtet: Die eine in wertvolle Gewänder gehüllt, die andere überdeckt mit Geschwüren und, wenn überhaupt, zumindest nicht üppig bekleidet.

Auch Kleidung ist gut deutbar: Kleidung kann verhüllen und schützen, sie stellt dar, wer jemand ist. Kleidung markiert Zugehörigkeiten und Stellung, sie kann Kreativität und Schönheit ausdrücken. Keine Kleidung haben bedeutet das Fehlen von alldem. Nacktheit ist auch ausgeliefert sein in und mit dem, was einen Menschen zeichnet. Es bedeutet, mit den Geschwüren - allem, was belastet und quält - den Blicken anderer schonungslos ausgeliefert zu sein. In einer medialen Gesellschaft finden sich dafür etliche Möglichkeiten und Beispiele: Wie rasch wird ein Star, ein Politiker, jemand aus dem Rampenlicht demontiert, schonungslos bloßgestellt. Jede exponierte Position gefährdet.

Schließlich das: „Wie“: Auf der einen Seite Übersättigung, Lebensgenuss in vollen Zügen. Auf der anderen Seite: Erbärmlicher Hunger.

Die Not sehen

Ich denke hier etwa an die Schülerinnen und Schüler der Schule, an der ich unterrichte. Sie absolvieren am Beginn der Oberstufe, mit 16 oder 17 Jah ein Sozialpraktikum. Manche arbeiten dann zwei Wochen lang in einer Tafel mit. Oft ist die Verwunderung, manchmal sogar der Schrecken der jungen Leute dabei groß: So viele Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung haben nicht genug Geld für Lebensmittel! Die Schlangen an der Essensausgabe sind während des Praktikums und danach nicht länger als zuvor. Aber jetzt erst nehmen die Schülerinnen und Schüler sie wahr.

Konfliktpotenzial besteht. Das ist menschlich und auch beim „Wer“ und „Wie“ nicht unlösbar. Die Lazarus-Erzählung lässt beide, Lazarus und den Reichen, sterben. Da wird offensichtlich, dass eine Lösung, dass Er-lösung fehlt. Nicht für den Armen - der gelangt unmittelbar in einen seligen Zustand. Aber für den Reichen: Von ihm heißt es, dass er schreckliche Qualen leidet. Sein Leben ist misslungen, gescheitert.

Der Disput mit Abraham ringt darum, ob und wie solches Scheitern verhindert werden kann. Kann Leben gelingen?

Musik 2: Richard Strauss – Metamorphosen, Studie für 23 Streicher - Herbert v. Karajan, Berliner Philharmoniker  

Dreifaches Nein

Dreimal sagt Abraham dem Reichen Nein:

Nein, Lazarus wird nicht einen Tropfen Wasser zur Abkühlung auf deine Zunge träufeln.

Nein, niemand wird deine Brüder warnen, ihr Leben zu ändern.

Nein, es wird keiner mehr von den Toten auferstehen.

Viel schroffer könnte die Abfuhr nicht sein, die der Reiche erfährt. Was so unbarmherzig wirkt und gar nicht zur Milde Jesu zu passen scheint, ist sehr wohl Lebenshilfe. So wie der Reiche lebt, in der Erzählung gelebt hat, kann Leben eben nicht gelingen. Da hilft kein nachträgliches Eingreifen.

Leben kann gelingen. Voraussetzung aber ist, dass soziale Gegensätze im Hier und Jetzt erkannt und bekämpft, vielleicht sogar bezwungen werden.

Solange es Hunger gibt, darfst Du es Dir nicht mit ruhigem Gewissen gut gehen lassen. Solange Menschen von Krankheit entstellt sind, darfst Du Dich nicht mit ruhigem Gewissen in Samt und Seide kleiden. Solange einer draußen bei den Hunden liegt, kannst Du nicht guten Gewissens mit deinen Freunden drinnen feiern.

Dramatisch, belastend und lebensbedrohlich werden die sozialen Konflikte dadurch, dass sie nicht erkannt werden von denen, denen es gut geht.

„Sie haben Mose und die Propheten: Auf die sollen sie hören“, begründet Abraham das schroffe „Nein“. „Ihr habt ein Gewissen“, mag die Ethik ergänzen. Eine innere Stimme, die Euch sagen kann, wie Ihr Euch verhalten müsst. „Aber Abraham, wie sollen denn die Reichen im Hausinneren wissen, dass draußen ein Lazarus liegt?“ Die, denen nichts fehlt, wie können denn die ihr Verhalten ändern - ohne Anlass…? Ganz aufrichtig scheint dieser Einwand nicht zu sein. In Jesu Erzählung überrascht, dass der Reiche Lazarus offenbar kennt - sogar mit Namen nennen kann: Lazarus soll ihm, dem Reichen, ja nun Hilfe bringen.

Compassion-Projekt

Das Compassion-Projekt kirchlicher Schulen hat in den vergangenen 25 Jahren eine interessante Erfahrung gemacht. Das Sozialpraktikum meiner Schüler gehört zu diesem Projekt.  Empathie, Mitgefühl, ist in jedem Menschen angelegt. Damit dieses Mitfühlen aber gleichsam aktiviert wird, braucht es einen praktischen Anreiz, eine Erfahrung. Jede und jeder sieht die Schlange an der Essensausgabe einer Tafel in unseren Städten. Aber erst wer die Not angeschaut hat, die dahintersteht, fühlt mit denen, die hier anstehen.

Seit ein paar Jahren schickt meine Schule alle Siebtklässler zu einem Sozialtag in die Altenheime unserer Region. Seit wir das tun, ist es für viele selbstverständlich, auch zum „großen Praktikum“ später dort hinzugehen. Sie haben erfahren, dass sie im Altenheim gebraucht werden, dass sie dort für Menschen wertvoll sind. Und das tut ihnen gut!

Für das neue Schuljahr haben sich etliche Schüler zu einem Projekt bei mir gemeldet: „Unsere Großeltern und wir“. Die Resonanz überrascht mich. Ich bin gespannt und freue mich auf die Arbeit mit den jungen Leuten über und mit ihren Großeltern: Einmal in der Woche sitzen wir für 90 Minuten zusammen, tauschen uns aus, erklären, fragen, planen Aktionen.

Was Jesus dem Reichen durch Abraham in der Lazarus-Erzählung sagt, ist heftig, zugegeben. Aber zugleich bedenkens- und lebens-wert. „Wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie ihr Leben ändern.“ Man meint den Evangelisten Lukas bei diesen Worten mit den Augen zwinkern zu sehen. Christen glauben, dass Christus von den Toten auferstanden ist. Kern seiner Botschaft ist genau diese Änderung des Lebens. Und sie kann gelingen.

Mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, den Blick aus dem sicheren Haus vor die Tür zu werfen und Mitgefühl zu entwickeln, ist die Garantie, Veränderung in Gang zu setzen.

Musik : Johann Sebastian Bach: „Vater unser im Himmelreich“ (BWV 636)  - Orgel: Gerrit Veldman, St. Michaels-Kirche Zwolle

Welttag der Migranten und Flüchtlinge

Den Hunger der Gegenwart zu sehen, damit das eigene Verhalten sich ändern kann, dazu mahnt das Gleichnis vom Reichen und dem armen Lazarus. Was ist der Hunger unserer Zeit, den wir übersehen? Was sind Geschwüre, die unsere Selbstdarstellung, unsere prächtigen Gewänder fragwürdig machen?

Als Ferienlektüre hat mich im vergangenen Sommer ein Büchlein von Sebastian Moll begleitet: „Jan Ullrich. Geschichte eines tragischen Helden“. Im Rückblick von 25 Jahren erläutert der Autor, wieviel Gnadenlosigkeit und Ausgrenzung eine scheinbare Karriere im Leistungssport bedeuten kann - und erschreckend oft mit sich bringt. Depression, Suchterkrankung, Suizid - an etlichen Beispielen belegt er seine Beobachtungen. Gesellschaftliche Erwartungen können übermächtig werden. Und Beteiligte übersehen offenbar weitgehend, dass da vor ihrer Tür jemand mit Geschwüren liegt.

Die katholische Kirche begeht heute, am letzten Sonntag im September, den „Welttag der Migranten und Flüchtlinge“. In Deutschland ist dieser Tag Teil der Interkulturellen Woche.

„Wir erwarten einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt“, zitiert Papst Franziskus die Heilige Schrift in seiner Botschaft zum heutigen Gedenktag.  „Niemand darf ausgeschlossen werden. Gottes Projekt ist inklusiv“, erläutert er.

Bessere Zukunft

Flucht und Migration scheinen menschheitsalte Phänomene. Lange vor der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Europa sind Menschen aufgebrochen. Hoffnung auf eine bessere Zukunft in einer „Neuen Welt“ - ob in Nordamerika, Australien oder wo auch immer stehen dafür. Menschen verlassen ihre Heimat - um zu überleben, auf der Suche nach Arbeit, nach Sicherheit, nach Anerkennung - im Kleinen wie im Großen.

Konflikte zwischen denen, die an einem neuen Ort ankommen, mit denen, die schon vorher da sind, scheinen unausweichlich. „Heimat“ und „Zuhause“ sind aber von Menschen gemachte Größen - und manchmal auch Probleme.

Der Historiker Yuval Noah Harari belegt in seiner „kurze[n] Geschichte der Menschheit“: „Eigentlich sind Menschen von ihrem Ursprung her rastlos, auf dem Weg. Dass wir siedeln, bodenständig geworden sind, ist Folge einer Kulturrevolution, vor vielleicht 10.000 Jahren.“

Die biblische und christliche Tradition richtet ihren Blick auf die „wahre Heimat“, auf eine „himmlische Stadt“, eine Sehnsucht, deren Erfüllung noch aussteht. Papst Franziskus formuliert sie in seiner Botschaft für heute im folgenden Gebet:

„Herr, mach uns zu Werkzeugen deiner Gerechtigkeit,
damit dort, wo es Ausgrenzung gibt, Geschwisterlichkeit aufblühe,
und wo es Gier gibt, das miteinander Teilen gedeihe.

Herr, mach uns zu Erbauern deines Reiches
gemeinsam mit den Migranten und Flüchtlingen
und mit allen, die in den Peripherien leben.

Herr, lass uns begreifen, wie schön es ist,
gemeinsam mit allen als Brüder und Schwestern zu leben. Amen.“

Musik:  GL 470 „Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht“ (Orgel solo) - Levi Terres

Musikauswahl: Schul- und Kirchenmusiker Paul Lang, Amöneburg

 

 

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren