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Gemeinsam stärker
Bild: medio.tv/Schauderna

Gemeinsam stärker

Gabriele Heppe-Knoche
Ein Beitrag von Gabriele Heppe-Knoche, Evangelische Pfarrerin, Kassel
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In Kassel gehen zurzeit die Uhren anders. Es ist documenta. An vielen Orten in der Stadt fällt das auf, nicht nur an den zentralen Orten der Ausstellung. Die sehr emotionale Debatte um antisemitische Darstellungen auf einigen Kunstobjekten hat den Besucherstrom nicht aufgehalten. Gerade an den Wochenenden sind viele Leute unterwegs. Orte, die sonst oft gar nicht wahrgenommen werden, laden jetzt dazu ein, Kunst zu entdecken. In Hinterhöfen und alten Fabrikgebäuden, in zum Teil nicht mehr genutzten Kirchenräumen und unten am Fluss ist Neues entstanden. Ja, es entwickeln sich mancherorts immer noch Projekte, auch jetzt während der Ausstellung, Tag für Tag.

Lumbung - der zentrale Begriff der Documenta 15

Schon bald, nachdem entschieden worden war, dass das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa die künstlerische Leitung für die documenta fifteen übernehmen sollte, tauchte das Wort Lumbung auf. Kein anderes Wort steht wie dieses für die Grundausrichtung dieser documenta.

Was bedeutet Lumbung?

Lumbung bezeichnet auf Indonesisch eine Reisscheune. Die gibt es in vielen Dörfern in den ländlichen Gebieten Indonesiens. Sie werden von der Dorfbevölkerung gemeinsam genutzt. Wenn die Familien so viel ernten, dass sie nicht alles für sich selbst und die nächste Aussaat benötigen, lagern sie den Überschuss in dieser Reisscheune ein. Wenn jemand aus der Dorfgemeinschaft in Not gerät, kann er damit versorgt werden und muss keinen Hunger leiden. Und vielleicht ist er es, der im nächsten Jahr dann seinen Überschuss in die Reisscheune einbringen kann. So hilft man sich gegenseitig. Und die Gemeinschaft wird dadurch umso enger verbunden. Man teilt die Ressourcen, die die Einzelnen einbringen und sorgt für eine gerechte Verteilung. Ein solidarisches System.

Lumbung steht für andere Perspektive

Das hört sich einfach an, ist aber nicht selbstverständlich. Schon gar nicht in unserem westlichen Denken. Da soll doch jeder selbst seines Glückes Schmied sein. Lumbung steht für eine andere Perspektive. Es geht dabei um die Kraft der Gemeinschaft und nicht zuerst um das, was ein Einzelner leisten kann.  

Dieser Gedanke durchzieht die ganze documenta wie ein roter Faden. Räume werden von Künstlergruppen gestaltet und bespielt. Manchmal sieht man die Künstlerinnen und Künstler am Werk. Sie sind ansprechbar und suchen den Austausch. Das ist anders als bei vielen anderen Ausstellungen, wo man meist die fertigen Werke von Künstlern mit großem Namen bewundern kann. Hier auf der documenta geht es weniger um den individuellen Ausdruck eines Einzelgenies. Es geht darum gemeinschaftlich zu gestalten, Ideen und politische Ziele voranzubringen. Mit den Mitteln der Kunst. 

Durch das Zusammenwirken von vielen entsteht etwas Neues

Durch das Zusammenwirken von vielen entsteht etwas Neues, ein gemeinschaftliches Projekt. Das ist für Besucherinnen und Besucher ungewohnt, aber zugleich faszinierend. Oft schon haben mir Menschen erzählt, dass sie unverhofft mit den Künstlern vor den Objekten ins Gespräch kamen, manchmal konnten sie sogar etwas mitmachen. Das war eine besondere, beglückende Erfahrung. Die Kunst ist nahbar und greifbar geworden. 

In der documenta-Halle zum Beispiel steht eine Halfpipe, die von Skatern genutzt wird. Gestaltet vom Künstlerkollektiv Baan Noorg aus Thailand. Im Stadtteilzentrum Neue Brüderkirche knüpfen, weben, stricken Menschen unterschiedlichster Herkunft an einem Teppich. Jeder kann dazukommen und mitmachen. Ein Projekt des belgischen Künstlers Reinaart Vanhoe. Und an vielen Standorten wird gepflanzt und gekocht. Denn das gemeinsame Essen ist ein wesentliches Element der Gemeinschaft. Es gehört einfach dazu. 

Bei diesem Verständnis von Kunst geht es um Austausch, um Teilhabe und um eine gemeinsame Weiterentwicklung der Gesellschaft. Zu diesem Prozess kann jeder etwas beitragen. Jeder kann unseren zwischenmenschlichen Beziehungen und damit der Welt ein anderes Gesicht geben. Das ist die Botschaft.

Musik Gamelan Degung, Sabilulungan     

Die Ursprungsgeschichte des Christentums baut auch auf die Kraft der Gemeinschaft

Lumbung, die Reisscheune – Sinnbild für die Kraft der Gemeinschaft, für kollektiven Zusammenhalt. Diese Grundidee, die die ganze documenta durchzieht, fasziniert mich. Auch die Ursprungsgeschichte des Christentums baut auf ein Kollektiv, auf die Kraft der Gemeinschaft. Jesus hat gleich zu Beginn seines Wirkens einen Kreis von Jüngern berufen. Mit ihnen gemeinsam zieht er durchs Land, kehrt bei Menschen ein, verbreitet seine Botschaft und führt immer wieder neu Menschen zusammen.  

Nach Jesu Tod bleiben die Jünger beieinander. Sie laufen nicht einfach panisch auseinander und jeder zieht sich zurück. Trotz ihrer Angst, trotz ihrer Trauer und trotz ihres Entsetzens über den schrecklichen Tod Jesu bleiben sie zusammen und halten miteinander aus. Und als die ersten kommen und sagen, „Jesus ist auferstanden, wir haben ihn gesehen!“– da stärken sie sich gegenseitig und schöpfen neue Hoffnung. So gewinnen sie schließlich neue Kraft.

Auch unterschiedliche Meinungen gehören zu einer Gemeinschaft

Das war bestimmt nicht einfach. Sicherlich haben sie miteinander darum gerungen, ja, vielleicht auch gestritten, wie es nun nach Jesu Tod weitergehen soll. Da wird es manche gegeben haben, die verzweifelt und hoffnungslos waren, die aufgeben wollten. Andere haben sich vielleicht bemüht, alle beieinander zu halten. Und manche haben vielleicht auch energisch gefordert: Ihr müsst euch jetzt erst recht zeigen und zu Jesus bekennen. In dieser Phase war es ganz bestimmt nicht nur harmonisch im Jüngerkreis. Aber das gehört zu Gemeinschaft hinzu. 

Gemeinschaft ist ein dynamisches Geschehen

Unterschiedliche Meinungen und Haltungen aushalten und miteinander ins Gespräch kommen. Es wird diskutiert, man versucht sich zu einigen, manchmal muss man am Ende einfach abstimmen. Jeder, der sich irgendwo in einer Gruppe engagiert oder wer in einer größeren Familie aufgewachsen ist, kennt das. Am Ende wachsen alle an diesen Gesprächen, wenn es zu einem ernsthaften Austausch kommt. Und genauso wichtig ist es, dass es immer mal wieder neue Impulse gibt.

Von innen wie auch von außen. Damit man nicht nur im eigenen Saft schmort und sich nichts mehr bewegt. Gemeinschaft ist ein dynamisches Geschehen, in dem Verantwortung füreinander wächst und wo die Aufgaben immer wieder neu verteilt werden. 

Musik J.S. Bach, Un poco Allegro BWV 528, 3

Das biblische Bild von dem Leib und den vielen Gliedern

Gemeinschaft ist ein dynamisches Geschehen. Dafür hat Paulus ein wunderbares Bild gefunden. (1.Kor, 12,12ff).

Er vergleicht in einem Brief an die Gemeinde in Korinth die Gemeinschaft der Christen mit dem menschlichen Körper. Der Körper setzt sich aus vielen unterschiedlichen Gliedern und Organen zusammen. Sehr anschaulich beschreibt Paulus, wie der ganze Körper nur lebendig sein kann, wenn jedes Körperteil, jedes Organ seine jeweils eigene Funktion erfüllt. Kein Teil kann das Ganze allein abdecken. Alles wird gebraucht, um diesen ganzen großen, komplizierten Organismus in Gang zu halten. Da braucht es die Hände, um zu greifen. Das kann ein Ohr oder Auge nicht ersetzen. Und umgekehrt kann die Hand nicht hören und auch nicht sehen. Das ist den Ohren und den Augen vorbehalten. Und so fügt sich jedes Organ, jedes Körperteil mit seinem besonderen Beitrag in das große Ganze ein. 

Alle Körperglieder sind wichtig

Manche scheinen dabei ja besonders wichtig zu sein, wie vielleicht das Herz oder der Mund. Aber das weist Paulus zurück. Er sagt: Alle sind wichtig. Auch wenn ein Teil vielleicht sehr unscheinbar ist, so kann doch der ganze Körper leiden, wenn dieser eine Teil ein Problem hat. Ein gebrochener Zeh z.B. kann enorm schmerzen und einen Menschen für lange Zeit lahmlegen. Das sollte man nicht unterschätzen.

So ist es auch in einer Gemeinde

Paulus überträgt diesen Gedanken. Er sagt: So ist das auch mit den unterschiedlichen Menschen in den Gemeinden. Sie alle zusammen bilden die Gemeinschaft. Jede und jeder trägt seinen und ihren Teil dazu bei, dass die Gemeinschaft stark und lebendig ist. Da gibt es Menschen, die stecken voller Ideen und können andere begeistern. Und dann gibt es die, die handwerklich geschickt sind. Es gibt Menschen, die sind anderen gute Gesprächspartner. Und es gibt die Musikalischen, die mit ihren Instrumenten oder ihrer Stimme Gottesdienste und Feste bereichern. Bestimmt gibt es auch einige, die sorgfältig darauf achten, dass nicht alle Aktivitäten durcheinanderlaufen und sich gegenseitig behindern. Und es gibt kluge Menschen, die man um Rat fragen kann, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen. Wichtig sind auch die, die für die anderen beten. Das kann ganz im Verborgenen geschehen. Für die anderen unsichtbar. Vieles ließe sich noch aufzählen. Aufgaben, die Menschen für die Gemeinschaft übernehmen. Wir machen uns das oft gar nicht so klar. Das ist ja nicht nur in der Kirche so. 

Viele bringen sich ein - auch eine Gesellschaft braucht das

Unsere Gesellschaft lebt davon, dass unendlich viele Menschen ihr Wissen, ihr Können und ihr Engagement in die Gemeinschaft einbringen. In Kirchengemeinden genauso wie in Vereinen, in Dorfgemeinschaften, in ehrenamtliche Tätigkeiten, in der Politik. Davon lebt eine offene Gesellschaft, die nicht nur auf alles setzt, was staatlich verordnet ist und von Behörden und Ämtern umgesetzt wird. Wieviel ärmer wäre unsere Gesellschaft, wenn es nicht so viele gäbe, die sich im sozialen Bereich, für Flüchtlinge, für Kinder und Jugendliche, bei den Tafeln und in vielem mehr engagieren. Wie bunt und lebendig ist unsere Kulturszene durch die vielen freien Chöre, Theatergruppen und kreativen Köpfe.

Die Kraft einer offenen Gesellschaft beruht darauf, dass Menschen die Freiräume nutzen und die Gemeinschaft mit ihren Ideen und ihrem Engagement bereichern. Das schafft Verbindungen. Das schafft Zusammenhalt.

Musik Matthias Schmitt, „Ghanaia“ für Marimba 

Die größte Angst der Menschen in Deutschland

Der Psychologe Stephan Grünewald betreibt ein Marktforschungsinstitut. Durch Umfragen wird dort unter anderem erforscht, wie die Menschen in Deutschland ticken. Vor einiger Zeit hat er in einem Interview Ergebnisse seiner Umfragen vorgestellt. Und das war schon erstaunlich. Sein Institut hat herausgefunden: Die größte Angst der Menschen in Deutschland ist, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft dauerhaft verloren gehen könnte. Diese Befürchtung rangiert noch vor der Angst vor den Folgen des Ukraine Krieges und vor den Folgen des Klimawandels. Nun erleben wir derzeit eine Krise nach der anderen und müssen feststellen: Sicher geglaubte Grundlagen unserer Gesellschaft tragen nicht mehr. Wir müssen uns in unserem Denken und unserem Verhalten umstellen. Und das auch noch schnell. Das ist eine große Herausforderung. 

Keiner kann Krisen für sich allein bewältigen

Deutlich wird an all diesen Krisen: Das kann keiner für sich allein bewältigen. Wir brauchen eine gemeinschaftliche Anstrengung, um die notwendigen Ziele zu erreichen. Und wir müssen uns gegenseitig helfen, damit wir unsere Lebensgewohnheiten verändern und uns neu aufstellen können. Jeder muss versuchen, seinen Teil beizutragen, so gut es eben geht. Gerade sind wir alle zum Energiesparen aufgerufen. Da habe ich schon viele gute Ideen von Nachbarn oder Bekannten gehört, die mich selbst angeregt haben, bei mir im Haushalt nochmal genauer hinzuschauen. Und wie gut hat doch letztendlich trotz aller lautstarken Proteste der Zusammenhalt in der Coronapandemie funktioniert. Vorbildlich haben zum Beispiel die jungen Menschen sich zum Schutz der Älteren eingeschränkt, Hilfe geleistet und auf vieles verzichtet, was sonst einen wesentlichen Teil ihres Lebens ausmacht. So sind wir als Gesellschaft ganz gut durch die Pandemie gekommen. Und ich bin sicher, dass wir auch im kommenden Winter erleben werden, wie viele Menschen Initiativen ergreifen und helfen werden, falls es in den Wohnungen kalt wird. 

Christen sehen Gottes Geist am Wirken, wenn Gemeinschaften funktionieren

Gemeinschaft und Zusammenhalt, Ressourcen teilen und für gerechte Verteilung sorgen. Als Christen sehen wir Gottes Geist am Werk, wenn wir so als Gemeinschaft zusammenstehen. Es gibt daneben viele Menschen, die sich mit anderem Hintergrund sozial engagieren. Vieles können wir gemeinsam tun und uns gegenseitig verstärken. 
Bei der documenta heißt das Lumbung. Die Grundidee der documenta passt genau in unsere Zeit und zu den Krisen, die uns herausfordern. Hier in Deutschland und auch weltweit. Wer sich von einer Gemeinschaft getragen weiß, der kann mit solchen Krisen anders umgehen. Dann regiert nicht die Angst das Leben. Das Wissen um die Gemeinschaft im Rücken, die einen nicht im Stich lässt, vermittelt Sicherheit und Zuversicht. 

Wichtige Gemeinschaften

Für sehr viele Menschen ist die Familie die Gemeinschaft, auf die man sich verlassen kann. Aber auch Freundeskreise, Initiativen und auch Kirchengemeinden können so für Menschen da sein, Hilfestellung geben und vor allem die Angst vertreiben. Auch die Sozialsysteme unserer Gesellschaft dürfen wir nicht unterschätzen. Menschen aus anderen Ländern beneiden uns darum. Deshalb sollten wir nicht verächtlich darüber reden, auch wenn manches verbesserungswürdig ist. 

Ein Bild der Hoffnung und des Ansporns

Es ist so wie Paulus es in seinem Bild beschrieben hat. Wir leben in einer großen Gemeinschaft, wo jeder und jede etwas beitragen kann. So wie jedes Körperteil und jedes Organ mit dafür sorgt, dass der ganze Körper lebendig ist und bleibt. Für mich ist dieses Bild eine Hoffnung und zugleich ein Ansporn, mich mit meinen Möglichkeiten einzubringen, damit wir gemeinsam in die Zukunft gehen können. 

Musik Ney Rosauro, Konzert für Marimba und Percussionensemble, 3. Satz: Tanz

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