Beitrag anhören:
Das Geheimnis der Stille
Bild: medio.tv/Schauderna

Das Geheimnis der Stille

Dr. Willi Temme
Ein Beitrag von Dr. Willi Temme, Evangelischer Pfarrer, Martinskirche Kassel
Beitrag anhören:

In Kassel läuft zurzeit die documenta. Überall in der Stadt gibt es Kunst zu sehen: auf freien Plätzen, im Park, am Fuldaufer, in alten Fabrikgebäuden usw. usw. Diesem starken Kunstwirken überall kann man sich als Kasseler kaum entziehen. Und so wird es Sie auch nicht verwundern, dass es auch in einer Reihe von Kirchen neue Kunst zu entdecken gibt. 

Ein Werk der Klangkünstlerin Cathy van Eck

In meiner Kirche, der Martinskirche, die mitten im Stadtzentrum liegt, ist es eine Klanginstallation, die die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher auf sich zieht. Es ist ein Werk der Klangkünstlerin Cathy van Eck, und es trägt den Titel „da draußen“. Die Künstlerin transportiert Klänge aus dem Stadtraum in den Kirchenraum. Sie hat mit Mikrofonen die Stadt erkundet, und nun tönt die Stadt in der Kirche. 

Leise und laute Töne hören

Zu hören sind da nicht nur angenehme Geräusche wie das Plätschern des Wassers bei den Wasserspielen am Herkules oder das Geläut von Kirchenglocken. Daneben kann man auch akustisch die Müllabfuhr bei ihrer Arbeit erleben oder man hört das laute Quietschen einer Straßenbahn, die eine scharfe Kurve nimmt. Eher leise Töne wechseln sich da mit lauten und schrillen Geräuschen ab. Aber so, dass zwischendrin immer wieder auch Stille herrscht. Und dieser Rhythmus von Geräusch und Stille ist es, der mich bei diesem Kunstwerk besonders anspricht. Denn für mich ist Stille etwas Wichtiges und Kostbares – in der Kirche ganz besonders.

Was es mit der Stille auf sich hat – das möchte ich gerne mit Ihnen heute Morgen näher betrachten. Aber auch, was die Stille mit Klängen, Tönen und Geräuschen zu tun hat. Ich glaube nämlich, dass beides irgendwie zusammengehört.

Musik: Arvo Pärt, Trisagion  

Erleben von Stille

Meine Kirche, die Martinskirche in Kassel, ist auch in Nicht-documenta-Zeiten täglich eine offene Kirche. Und viele Besucherinnen und Besucher werden angesprochen von der lichten Weite des Raumes und von der Stille, die in der Kirche herrscht. Ja, die Menschen nehmen diesen Ort wahr als einen Raum der Stille, obwohl die Martinskirche an einer der meistbefahrenen Straßen in Kassel liegt. Und das heißt: ganz still ist es hier eigentlich nie. Aber die Töne, die von außen hier hereinkommen, sind in der Regel gedämpfte Töne und sie werden in diesem Raum gewissermaßen zu einem sanften Säuseln. Das Erleben des stillen Raumes spricht die Menschen mitunter in ihrer Tiefe an. Sie werden berührt von irgendwas oder irgendwem. Und der eine und die andere sagt es so: „Ich spüre da die Nähe Gottes.“

Was das Erleben von Stille mit der Erfahrung Gottes zu tun hat

Was das Erleben von Stille mit der Erfahrung Gottes zu tun hat – davon gibt es in der Bibel eine ganz wunderbare Geschichte. Vielleicht kann sie uns ein Wegweiser sein auf unserer Suche nach tiefen Erfahrungen. 

Die Geschichte handelt von dem Propheten Elia und geht so: 
Der Prophet Elia ist auf der Flucht vor der bösartigen und machthungrigen Königin Isebel. Sie trachtet dem Propheten nach dem Leben. 
Elias Lage scheint hoffnungslos zu sein. Bisher hat er wie kein anderer für die Sache Gottes gekämpft und gestritten. Nun möchte er seinerseits den Kampf beenden und am liebsten sterben. Elia kann nicht mehr.

Der Prophet Elia begegnet Gott

Und in dieser Situation nun lässt sich Gott für ihn, den verzweifelten Propheten, etwas ganz Besonderes einfallen: Gott beschließt: ich selber will mich ihm zeigen und offenbaren. Und durch diese Begegnung soll Elia neue Kraft bekommen.

Und so können wir es im 1. Buch der Könige im 19 Kapitel lesen: 
Der Herr sprach zu Elia: „Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN!“
Und siehe, der HERR ging vorüber. 
Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; 
der HERR aber war nicht im Winde. 
Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; 
aber der HERR war nicht im Erdbeben. 
Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. 
Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. 
Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel 
und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle.

Musik: Arvo Pärt, Annum per annum

Wie Gott auf sich aufmerksam macht

Sie haben es gehört: Die ungeheuerlichsten Naturgewalten bietet Gott auf, um auf sich aufmerksam zu machen.
Da gibt es das Sausen und Brausen eines gewaltigen Sturmes, von dem es heißt: er war so stark, dass er Berge zerriss und Felsen zerbrach. Das muss ein Krachen gewesen sein, dass sich Elia die Ohren zuhalten musste.
Aber – so heißt es da - dieser Sturm kam nur vor der Erscheinung des Herrn her, was bedeutet: Der Herr selber war nicht im Sturm.

Durch ein Erdbeben?

Danach gibt es da alle Geräusche, die mit einem Erdbeben verbunden sind. Ich selber kann Ihnen gar nicht sagen, wie das klingt, wenn die Erde bebt und die Erdschichten der Weltkugel sich aneinander reiben. 
Aber wie es klingt, wenn infolge eines Bebens die Häuser umfallen wie Kartenhäuser, wenn Bäume umkippen und Felsen herabstürzen: das können wir alle uns wohl irgendwie vorstellen.
Aber wieder heißt es da: das Erdbeben kam nur vor dem Herrn her. Der Herr selber war nicht im Erdbeben. 

Durch ein Feuer?

Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer. Das Knistern der heißen Glut und die Geräusche, wenn das Feuer alles Brennbare auffrisst: das kennen wir oder haben doch zumindest eine Ahnung davon.
Aber auch in dieser Naturgewalt, die alles Leben vernichten kann, war der Herr nicht. Sondern sie ging nur vor dem Herrn her.

Gott begegnet Elia im leisen Sausen

Und dann endlich aber, nach diesem ganzen ohrenbetäubenden Krachen und Tosen der Elemente erscheint der Herr jetzt selber. Und wie geschieht das? Und welche Klänge, Töne und Geräusche gehen damit einher?
Es geschieht mit einem sanften, leisen Sausen.
In diesem „Flüstern eines leisen Wehens“ – wie man auch übersetzten kann – erscheint Gott. Leise und kaum wahrnehmbar.

Klänge, Töne und Geräusche begegnen uns in dieser Geschichte in Hülle und Fülle: Außerordentlich laute und krachende Geräusche zum Fürchten und zum Vergehen; Geräusche, die man unmöglich für längere Zeit ertragen kann.
Und dann auf einmal: die große Ruhe. Die Ruhe nach dem Sturm 

Gott erscheint Elia nicht in Naturgewalten

Es sind zwei Dinge, die ich an unserer Elia-Geschichte besonders bemerkenswert finde:
Das erste ist: es sind hier nicht die ungeheuer großen und mächtigen Naturgewalten, die Gott sich ausgesucht hat, um darin zu erscheinen. 

Die Natur kommt auch heute in unserer technisierten Welt noch immer so groß und mächtig daher mit ihrem Donnern und Tosen, dass wir Menschen sie nicht untertan machen können und nicht in den Griff bekommen. Doch nicht dieses überwältigend Große hat Gott sich ausgesucht, um darin zu erscheinen.

Zwar mag es uns durchaus so vorkommen, dass in allem überdimensionalen und kolossalen Geschehen Gott gegenwärtig ist. Aber unser Bibelabschnitt sagt: Gott war nicht in alledem - wenn auch, was nicht unwichtig ist, und wir werden noch darauf zurückkommen – wenn auch diese ganzen Naturschauspiele in eine Beziehung gesetzt werden zum Erscheinen Gottes. Denn es heißt: diese rohen, tosenden Kräfte gingen vor dem Herrn her. 
Gott ist nicht in diesen krachenden Zerstörungsmächten – so können wir schlussfolgern – auch wenn es manchmal so scheinen mag. – 

Das ist das eine, was mich an dieser Bibelstelle so sehr beeindruckt.

Gott begegnet ihm mit zartem Klang und feinem Geräusch

Und das andere ist dies:
Die Stille, in der sich Gott schließlich offenbart, sie ist gar nicht eine absolute Stille, sondern da ist durchaus ein Geräusch, ein Klang vielleicht sogar und vielleicht auch ein Ton. Nur dass das alles ganz feine Schwingungen sind: ein sanftes, stilles Sausen, wie es da heißt.

Und das heißt für mich: Gott umgibt sich mit Klang und feinem Geräusch. So, dass es uns nicht wehtut, sondern vielmehr, dass wir hineingenommen werden in eine tönende leise Bewegung, die uns mitnimmt, zu anderen Ufern und mitunter auch in eine andere Welt.

Musik: Arvo Pärt, Spiegel im Spiegel für Violine und Piano

Nebeneinander von Klängen und Stille auch im Kunstwerk van Ecks

Ich komme noch einmal zurück auf die Klangskulptur von Cathy van Eck, die jetzt in meiner Kirche zu hören ist. Ich meine: das Kunstwerk ermöglicht uns nun neue Erfahrungen mit Klängen, Tönen und Geräuschen in diesem spirituellen Raum. Die Stadt mit ihren Tönen kommt jetzt in vielfältiger Weise zu uns herein. Aber dann ist da auch immer wieder die Stille. Und dieses Nebeneinander von Klängen und von Stille – das ist es, was mich so sehr an diesem Kunstwerk anspricht. Die Zuhörerinnen und Zuhörer machen vielleicht die Erfahrung: ja, das war jetzt ein sehr interessanter Klang – und die Stille, die danach kam: die habe ich jetzt ganz neu wahrgenommen. 

Auch die Gottesoffenbarung, die Elia zuteilwurde, lebt von diesem Nebeneinander von laut und ganz leise. Erst im Verhältnis zum Tosen der Naturgewalten wird das sanfte Sausen zum entscheidenden Erlebnis. Nur Stille bewirkt womöglich gar nichts – aber die Stille nach Geräusch und Ton kann zu dem Tiefsten gehören, was Menschen erleben können. 

Eine Spruchkomposition von Lao Tse

Zu diesem Wechselverhältnis ist mir eine Spruchkomposition von Lao Tse, dem großen chinesischen Weisen, eingefallen.
Lao Tse sagt (Daudedsching Nr.11):

Aus Ton formt der Töpfer den Topf.
Wo er hohl ist, liegt der Nutzen des Topfs.

Dreißig Speichen umringen die Nabe.
Wo nichts ist, liegt der Nutzen des Rades.

Tür und Fenster höhlen die Wände,
wo es leer bleibt, liegt der Nutzen des Hauses.

Die Stille ist das Eigentliche

Und in diesem Sinne verstehe ich die Stille, die von Klängen, Tönen und Geräuschen umgeben ist. Die Stille ist das Eigentliche. 

Gott hat sich das sanfte Sausen ausgesucht, um darin zu erscheinen.
Er schenke uns Ohren, die Stille zu hören.

Musik: Arvo Pärt, Alleluja Tropus

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren