„Marta, Marta“
Stellen Sie sich vor: Sie erwarten einen lieben Besuch, machen eine riesen Welle, um ihn zu umsorgen und zu verwöhnen: Aufräumen, Einkaufen, Dekorieren, richtig aufwendig Kochen und was Ihnen sonst noch so alles einfällt, um der perfekte Gastgeber oder die perfekte Gastgeberin zu sein.
Dann kommt Ihr Besuch, vielleicht haben Sie das eine oder andere vergessen oder haben gerade eine neue Idee, wie es noch ein bisschen schöner sein könnte. Sie sind sehr engagiert und hektisch und der Besuch ist da und Sie wollen das Beste...
Ein undankbarer Gast
Und dann werden Sie von Ihrem Gast so richtig abgewatscht: "Was soll denn das ganze Getue? Wozu der Aufwand? Das ist doch gar nicht nötig, kümmer Dich doch mal um was Wichtiges." So etwas Ähnliches erlebt eine Frau in der Bibel mit Jesus. Eine Motette von Siegfried Strohbach erzählt davon:
Musik 1: aus: Siegfried Strohbach, Motette „Jesus und Martha“ (hr-Archiv, ca. 2.20 min).
Marta und Maria – die Geschichte der beiden Frauen aus der Bibel, von der auch diese Motette von Siegfried Strohbach erzählt, war mir immer ein großes Ärgernis. Sie hat für mich auf den ersten Blick wenig von einer frohen Botschaft.
"Maria hat den guten Teil gewählt"
Da gibt sich eine Frau viel Mühe und plagt sich sehr, um einen hoch geschätzten Gast angemessen zu bewirten. Eine andere, ihre eigene Schwester, sitzt derweil herum und lässt es sich gut gehen. Als Marta sich an Jesus wendet, damit er ihre Schwester Maria zum Helfen schickt, bekommt sie zur Antwort: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.“ (Lukas 10,41f) Ungerechter Weise scheint Jesus, der Gast, für die Faule auch noch Partei zu ergreifen. Auf mich wirkt das Urteil über Marta herablassend, die beiden Schwestern werden scheinbar gegeneinander ausgespielt. Die Begebenheit wird so erzählt, dass die Schwestern gar nicht aufeinander bezogen sind, sie sprechen nicht einmal miteinander.
Viele Bibelwissenschaftler haben diese Stelle im Laufe der Geschichte ausgelegt, und fast immer wird Marta, die Fleißige, herabgesetzt, mal weniger, mal mehr. Im Extremfall erscheint sie als die hirnlose Schafferin. Maria dagegen, die nur dasitzt und Jesus zuhört, wird zur vollkommenen Mystikerin erhoben. Wenige sprechen zaghaft für Marta. So meint ein früher Kirchenlehrer, Jesus werfe Marta nicht ihre Geschäftigkeit vor, sondern dass sie die Gelegenheit verpasst, auf das Wort Jesu und damit auf das Wort Gottes zu hören.
Gastfreundschaft in der Bibel
Umgekehrt gibt es in der Bibel viele Stellen, die meiner Meinung nach eindeutig die Position von Marta stärken. Sie sprechen davon, wieviel Segen Gastlichkeit bringt: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt!“ (Hebräer 13,2) heißt es zum Beispiel im Neuen Testament. Das nimmt Bezug auf die Geschichte von Abraham aus dem Alten Testament. Abraham sieht von weitem drei Männer kommen. Sofort beginnt er, sie mit viel Hingabe und hektisch zu bewirten. Er läuft „eiligst“, steht da (Genesis 18,6), um die Bewirtung zu organisieren.
Abraham rennt herum
Ein Greis, der herumrennt und sich abmüht – auf zeitgenössische Hörerinnen und Hörer wirkte das sehr unangemessen und lächerlich. Von Männern, die so ein hohes Alter und einen so hohen Status wie Abraham erreicht hatten, wurde erwartet, dass sie sich würdevoll und ruhig geben. Das ist Abraham egal. Er macht gegen die Erwartungen der anderen genau das, was er selbst für richtig hält. Und zum Dank für das Gerenne und Getue bekommt er ein Kind verheißen. (vgl. Genesis 18, 1-10) Gastfreundschaft ist also ein hohes Gut und bringt Segen. Hört man die Geschichte von Marta auf dem Hintergrund der Erzählung von Abraham, wird klar, wie absurd es wäre, Marta für die aufwendige Bewirtung ihres Gastes zu tadeln. Und: Was wäre das für ein erbärmlicher Mensch, der noch nie einen lieben Gast mit viel Geschäftigkeit umsorgen wollte!
Doch wie ich es auch drehe und wende – die Worte Jesu stehen im Raum, und Marta wird ihren Makel nicht lost: „Nur eines ist notwendig“, sagt Jesus. „Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.“ (Lukas 10,42)
Musik 2: Johann Sebastian Bach, Suite No.1 G-Dur, Courante (CD: Johann Sebastian Bach, 6 Suiten für Violoncello Solo, Pierre Fournier, CD 1, Track 3, 2.45 min).
Der Name Marta bedeutet: „Jene, die herrscht“, „die Herrin“. Marta kann Jesus einladen, weil ihr das Haus gehört, in dem er in dieser Geschichte aus der Bibel zu Gast ist. Marta ist eine reiche Frau. Als Hausherrin ist sie zuständig für das Wohlergehen ihrer Gäste und erfüllt, indem sie Jesus umsorgt, nur die gängigen Erwartungen ihrer Zeit.
Maria ist wahrscheinlich ihre ärmere Schwester, die mit in ihrem Haushalt leben darf. Sie ist nicht verantwortlich für die Bewirtung.
Die Bibel stellt die beiden Schwestern sehr unterschiedlich dar: Marta handelt, Marta spricht. Maria dagegen sitzt und spricht kein Wort – noch nicht.
Maria, die Schülerin des Rabbi
Sich zu Füßen setzen, um zu hören – das kennzeichnete den Schüler eines Rabbis. Den zeitgenössischen Zuhörerinnen und Zuhörern wurde durch die Erzählung klar: Auch Frauen haben das Recht, die Lehren Jesu zu hören und seine Schülerinnen zu sein. Das war damals keine Selbstverständlichkeit. Und darin steckt für mich eine sehr positive, frohe Botschaft: Maria, die Frau, die Jesus zu Füßen sitzt, ist eben nicht einfach die Faule – sie ist eine Frau, die Jesus zuhören darf, die seine Lehren aufnimmt, eine Frau, die von Jesus als seine Schülerin angenommen wird.
Kein Gegensatz von Handeln und Hören
Und Maria bleibt bestimmt nicht beim Herumsitzen und Hören. Ich stelle mir vor: Sie wird, sobald sie verstanden hat, aufstehen und nach Gottes Wort handeln. Für mich steckt in dieser Geschichte von Maria und Marta kein Gegensatz von Handeln und Hören. Jesus will hier nicht eine emsige gegen eine vermeintlich faule Schwester ausspielen. Vor allem will er sicher nicht die eine gegenüber der anderen herabsetzen. Das wäre für mich keine frohe Botschaft. Und es wäre ungewöhnlich für Jesus, der immer wieder davor warnt, Menschen zu be- und verurteilen. Ich glaube: Jesus will, dass es allen gut geht - Maria und Marta. Deshalb bin ich mir sicher, dass er Marta weder tadeln noch bloßstellen will.
Musik 3: Johann Sebastian Bach, Suite No.1 G-Dur, Gigue (CD: Johann Sebastian Bach, 6 Suiten für Violoncello Solo, Pierre Fournier, CD 1, Track 6, 2.03 min).
"Marta war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen." (Lk 10,40) So heißt es in dieser Bibelgeschichte von Maria und Marta. Was genau hat Marta eigentlich getan? Wahrscheinlich waren es Handgriffe, die mit der Zubereitung und dem Auftragen einer Mahlzeit zu tun hatten. Viel wichtiger als das, was sie getan hat, ist für mich, wie die Bibel ihr Tun bewertet. Sie nennt es einen "Dienst" und verwendet dabei das Wort „Diakonia“. Das ist nicht irgendeine niedere Arbeit. Das Wort kommt in der Alltagssprache gar nicht vor. „Diakonia“:
Ein Dienst mit Auftrag
Zu dieser Art von Dienst wird ein Mensch beauftragt – unabhängig davon, was genau zu tun ist. Dieser Mensch handelt dann im Namen des Auftraggebers und tritt anderen als Gesandter seines Chefs gegenüber. Dieses Dienen hat Autorität. Wer so dient, führt den Auftrag dessen aus, der ihn oder sie gesandt hat. Dienen, Diakonia, ist im Neuen Testament auch eine Kennzeichnung für Jüngerschaft. Jesus beauftragt, um in seinem Namen zu handeln.
Wenn Marta so dient, kann es meiner Meinung nach bestimmt nicht darum gehen, ihr Tun abzuwerten. Durch die Wortwahl wird klar: Sowohl Marta als auch Maria tun Gutes. Jede von ihnen ist eine Jüngerin Jesu. Marta ist Jüngerin durch das Dienen, Maria ist Jüngerin durch das Hören.
In der Geschichte von Maria und Marta klingt es so, als ob die fleißige Marta einen Makel hat. Worin besteht der Makel Martas?
Marta beschwert sich
Marta ist offensichtlich unzufrieden mit dem, was sie tut. Es ärgert sie, dass die Arbeit an ihr alleine hängen bleibt. Ich kann mir vorstellen: Sie hat auch Angst, etwas Wichtiges von Jesu Lehre zu verpassen. Ich bin mir sicher: Marta selbst könnte ihre Lage ändern. Vielleicht könnte sie ihre Schwester direkt zum Helfen auffordern und Jesus bitten, mit der Lehre zu warten. Oder sie könnte ihre eigenen Ansprüche an Gastfreundschaft herunterschrauben und sich auch zu den beiden setzen.
Statt sich selbst zu überlegen, was ihr jetzt wirklich wichtig wäre und dann danach zu handeln, geht sie zu Jesus und beschwert sich. Mir kommt das so vor, als ob sie selbst gerade keinen Sinn mehr in ihrer Arbeit sieht und deshalb will, dass Jesus ihr Tun für sinnvoll und wichtig erklärt. Am besten, indem er auch noch die Schwester zum Helfen schickt.
Doch diesen Gefallen tut Jesus ihr nicht – weil er es nicht kann. Die Entscheidung über das, was mir gerade wichtig ist, kann nur ich selber fällen. Alle Entscheidungen über mein Leben kann nur ich selbst fällen. Keine noch so hohe Stelle kann mir das abnehmen. Die Verantwortung für mein Leben trage nur ich, im Großen wie im Kleinen. Ich kann sie nicht abgeben.
Lästigen Hangriffen Sinn abgewinnen
Jeden Tag müssen wir viele kleine oder große Dinge tun, die vielleicht eintönig und langweilig sind: Wieder Geschirr spülen, das gleich benutzt und schmutzig wird, wieder eine langweilige Abrechnung machen, die keinen interessiert, wieder einkaufen, was morgen schon aufgegessen ist, wieder ins Auto steigen und einen langen Weg zum Kunden fahren. Wenn ich diesen Tätigkeiten kein kleinstes bisschen Sinn abgewinnen kann, überfordert mich schon ein Handgriff, und allein der Gedanke an diese Arbeit löst in mir Leere aus. Wenn ich nur für andere arbeite und mich immer in Pflichterfüllung aufopfere, werde ich auf Dauer unzufrieden sein – egal wie anspruchsvoll oder öde die Tätigkeit ist; egal, ob ich wenig tue oder mich halb zu Tode schaffe.
Sinnvolles Tun
Marias Entscheidung dafür, dass sie Jesus zu Füßen sitzt, trifft sie ganz bewusst. Natürlich hätte sie helfen müssen, auch wenn sie nicht die Verantwortung für das Haus trägt. Gegen diesen Erwartungsdruck tut sie, was sie selbst für richtig hält. Sie muss sich den Sinn ihres Tuns nicht von anderen zusprechen lassen. Damit hat sie – im vollen Sinn des Wortes – das Not - wendige erkannt: Nur wenn das, was ich tue, für mich Sinn ergibt, ist mein Leben und Tun lebenswert. Nur die Erfahrung von Sinn kann die seelischen Nöte meines Alltages wenden. Diese Haltung unterstützt Jesus ganz klar, indem er sagt: „Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.“ (Lukas 10, 42) Wenn ich in dieser Haltung meine Entscheidungen treffe, wenn ich kleine wie große Dinge darauf hin prüfe, ob sie für mich Sinn ergeben, dann habe ich den guten Teil gewählt – und den kann mir keiner nehmen.
Musik 4: Johann Sebastian Bach, Suite No. 2 d-Moll, Courante (CD: Johann Sebastian Bach, 6 Suiten für Violoncello Solo, Pierre Fournier, CD 1, Track 9, 2.06 min).
Mir fallen natürlich sofort mindestens zehn Aufgaben in jeder Woche ein, die ich nicht besonders mag und die für mich nur bedingt Sinn ergeben. Ich versuche, sie gezielt zu verringern, indem ich mich regelmäßig frage: Was ist unnötig? Was muss ich wirklich tun? Wer erwartet eigentlich von mir, dass ich das tue? Und bei dem, was dann übrig bleibt: Wer kann mir dabei helfen? Wen kann ich um Hilfe bitten?
Spülen mit Vogelgezwitscher
Bei den lästigen Pflichten, die dann noch übrig bleiben, gelingt es mir manchmal, sie mit ein bisschen Schönem zu verbinden: Beim Spülen schaue ich mir die aufgehende Sonne an und mache das Fenster auf, damit ich die Vögel höre. Oder noch besser: Ich entdecke ein kleines bisschen Sinn in meinem Tun, weil ich es in einen anderen Rahmen stellen kann: Wenn ich zum x-ten Mal Gemüse putze, stelle ich mir vor, wie sich meine Tochter später über das Essen freuen wird.
So gelingt es mir hier und da, im lästigen Alltag Sinn zu finden. Ich glaube: die Bibelgeschichte von den Schwestern Marta und Maria will mich bei diesem Vorhaben antreiben, denn
wenn ich Dinge tue, nur weil ich sie für meine Pflicht halte,
wenn ich immer nur für andere da bin, bis ich ganz erschöpft bin und jeden Sinn verloren habe,
wenn ich mich aufopfere, dabei immer unzufriedener und letztlich auch für andere unerträglich werde,
dann dankt mir das Keiner. Am wenigsten Gott.
Maria und Marta: eine frohe Botschaft
Mir sagt die Geschichte von Marta und Maria: Es ist gut, wenn ich für andere da sein kann, wenn ich gastfreundlich bin und mich um andere kümmere. Aber es ist wichtig, das ich dabei auch auf mich selbst achte und einen Sinn in meinen Aufgaben sehe – egal, wie andere mein Tun bewerten. So wird für mich aus der Geschichte von Marta und Maria eine frohe Botschaft.
Musik 5: Johann Sebastian Bach, Suite No. 2 d-Moll, Gigue (CD: Johann Sebastian Bach, 6 Suiten für Violoncello Solo, Pierre Fournier, CD 1, Track 12, 2.31 min).