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Den Blick schärfen
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Den Blick schärfen

Dr. Wolfgang Hartmann
Ein Beitrag von Dr. Wolfgang Hartmann, Spiritual im Priesterseminar, Fulda
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Es ist schön, Zeit zu haben. An Sonntagen zum Beispiel. Deshalb sind das meine Lieblingstage. Neulich las ich in einem Artikel, "weil da nichts passiert". Außer endlich mal auszuschlafen, in Ruhe zu frühstücken, die Zeitung nachzulesen, wieder mal in die Kirche zu gehen oder schlicht und einfach zu vergessen, wie spät es ist, muss wirklich nichts weiter passieren …! Sicherlich freuen Sie sich heute darauf. Es sei Ihnen von Herzen gegönnt!

Aber: könnte nicht ruhig auch der Alltag noch ein paar mehr entspannte Augenblicke haben? Wäre es nicht ganz sinnvoll, den Wecker mindestens eine halbe Stunde früher klingeln zu lassen, um ein bisschen zu sich zu kommen, erst nach dem Cappuccino in den Spiegel zu gucken und erst nach einer ordentlichen "Prise" von Mozart oder Elton John aus dem total zugeregneten Fenster?

Verschiedene Blicke

Und über noch etwas möchte ich mit Ihnen nachdenken: Ist Ihnen eigentlich schon mal aufgefallen, dass es neben dem Augenblick auch noch den Weitblick, den Fernblick und den Blick aufs Leben gibt? Wie nehmen wir unsere Umwelt wahr? Machen wir immer das Beste draus? Wenn ich mit gutem Gewissen meine vergangene Woche an mir vorbeiziehen lasse, komme ich da schon ein bisschen ins Grübeln …

Gibt es nicht so etwas wie einen christlichen Blick, von dem wir sagen können, dass Gott uns näher ist, als wir denken? Ist er nicht auch im Strahlen der bezopften Vierjährigen im Fahrstuhl, in der schläfrigen Vogelstimme am Abend vor dem Fenster, im urplötzlichen Anruf von irgendwem nach Jahren? Ich möchte gerne heute Morgen diesem Blick noch etwas mehr nachgehen.

Während meiner Studienzeit habe ich oft vor einem Altarbild in der Münchner Jesuitenkirche gesessen. Es hat mich immer wieder in den Bann gezogen. Und heute noch steht davon eine kleine Postkarte auf meinem Schreibtisch mit Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens. Er hält eine Monstranz, in der das geweihte Brot, die Hostie, zu sehen ist, und auf ihr ist das Monogramm JHS. Diese drei Buchstaben stehen für die lateinischen Wörter „Jesum Habemus Socium“, auf Deutsch: „Wir haben Jesus zum Gefährten.“ Wann, wie und wo auch immer: Im Fahrstuhl, beim nächtlichen Vogelruf, in vielen guten Augenblicken darüber hinaus, also auch im Streit zwischen Menschen, wenn zwei einander plötzlich die Hand geben, immer ist dieser Gefährte bei uns …

Musik: Wolfgang Amadeus Mozart – Complete Church Sonatas - Sonata C-Dur KV 278

Im vorigen Jahr habe ich ein paar Tage in Mecklenburg-Vorpommern verbracht. Auch in Rostock. Dort hat mich in der evangelischen Marienkirche ein wunderschöner Taufkessel aus dem 13. Jahrhundert nicht mehr losgelassen. 21 Bilder zeigen das Leben des Gekreuzigten. Besonders beeindruckend ist die Darstellung seiner Himmelfahrt. Es scheint, als schwebe er über den Jüngern. Aber auf dem Boden sieht man große Fußspuren. Was für eine tiefe Symbolik!

Ich möchte Sie nun noch einmal an Ignatius erinnern, dessen Bild auf meinem Schreibtisch steht. Nach seiner Bekehrung 1521 wollte er Jesus Christus und sein Leben genauer kennenlernen und begab sich auf Pilgerfahrt nach Jerusalem. Immer wieder las er in den Evangelien, schrieb sie sogar in verschiedenen Farben ab und war so davon gepackt, dass er von Stund an die Spuren des Messias nicht aus den Augen ließ!

Auf Spurensuche

Diese Spuren suchen! Als ob das so einfach wäre! Wenn wir an den grauenhaften Krieg in der Ukraine, die nicht zur Ruhe kommende Pandemie und die Klimakatastrophe denken, kann es da nicht sein, dass dabei die Spur dessen in dieser Welt schwächer wird, der sich vor über 2000 Jahren für uns Menschen geopfert hat?  

"Macht Gott etwa gerade Urlaub?" Diese Frage habe ich in der letzten Zeit nicht nur einmal gehört. Was soll ich antworten? Ich weiß es doch auch nicht! Vielleicht sollte ich sagen: "Wir glauben fest daran, dass er uns wann auch immer, mit seiner Liebe immer wieder zurückruft aus jener Freiheit, in die er uns entlassen hat. Sind wir es denn nicht, die seine Erde in Gefahr bringen? Und ist seine Liebe zu uns nicht stärker als seine Trauer über uns?"

Gewissheit und Zweifel, beide haben hier Platz. Dass selbst die Jünger oft die Spur ihres Meisters verloren haben, müssen sie nicht verschleiern. Sie können ganz ehrlich darüber reden. Wichtig ist, dass sie darüber reden! Auch wir sollten es immer und immer wieder tun. Selbst wenn wir uns eingestehen müssen, diese Spur in unserem Leben vielleicht ebenfalls verloren zu haben. "Reden hilft." Daran denke ich, wenn Menschen in ihrer Not nicht mehr weiterwissen, wenn Einsamkeit und Angst vor der Zukunft zur Last werden. Dann hilft es sehr, wenn es jemanden gibt, der einfach zuhört und vielleicht sogar dabei die alte Spur zu einer neuen machen kann.

Brannte uns nicht das Herz?

Auch die Emmausjünger merkten erst später, dass sich während des Gesprächs mit dem ihnen zu Anfang noch fremden Wanderer etwas bisher nicht Gekanntes ereignet hatte: "Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?" (Lk 24,32) Das sagen sie fassungslos, spüren aber gleichzeitig den Beginn einer neuen Hoffnung. Hätten wir Menschen bei aller Schwere diese Hoffnung nicht, dann wäre unser Leben wohl kaum zu ertragen! Manchmal frage auch ich mich: Wo finde ich in meinem Leben die Spuren Gottes? In einer Zeit der großen Herausforderungen und zunehmenden gesellschaftlichen Brüche bin ich oft ebenso ratlos wie die Vielen um mich herum. Trotz der Hoffnung, die ich habe …

Musik: Felix Mendelssohn-Bartholdy – Elias –  "Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht"

Die Geschichte zwischen Gott und uns Menschen ist spannend. Immer wieder erfahren wir, dass er unseren Pessimismus aufbricht und ihn zum Guten verändert. Auch dem Volk Israel geht es ähnlich. Aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit, erfährt es den Weg in diese Freiheit als eine bisher so nicht gekannte Nähe Gottes.

Zweifeln nicht auch wir manchmal daran, ob er wirklich noch mit uns geht? Schenkt er uns aber nicht immer wieder neue Zeichen? Durch ein Kinderlächeln im Fahrstuhl, eine unerwartete Gesundung, einen ruhigen Schlaf nach der bestandenen Prüfung?

Auch Abraham, unser Urvater, ist, so berichtet die Bibel, bereit, seine gesicherte Existenz zu verlassen und ins Ungewisse aufzubrechen. Weil er eine Erfahrung mit seinem Schöpfer gemacht hat. Und alle, die mit ihm zusammen sind und ihn auf ähnliche Weise erkennen, gehen dann ihre Wege mit ihm und entdecken plötzlich ganz neue Lebensentwürfe.

Nicht zuletzt auch Jesus Christus selbst. Wie viele er mit seiner Gottesnähe so berührt hat, lässt sich nur ahnen.

Die Nähe Gottes

Bei Jörg Splett, einem christlichen Philosophen unserer Tage, las ich den eindrucksvollen Satz: "Das ist nun der Sinn unserer Erde geworden – zu jeder Stunde des Tages und der Nacht – heiliger Ort zu sein, wo Gott selber sein Zelt aufschlägt."

Nahezu jedes dieser Worte spricht von einem tiefen Glauben an die Nähe Gottes. Und ich weiß auch, dass immer wieder Menschen sie erfahren dürfen. Besonders deutlich wird das zum Beispiel für eine Mutter bei der Geburt ihres Kindes. Oder wenn gegen alle Vernunft von jetzt auf gleich die Heilung einer Krankheit eintritt oder ein langersehntes Jobangebot ins Haus flattert! Alle, die eine solche Erfahrung machen, wissen, wie viel Dankbarkeit, Glück und Freude sich dann da ausbreiten können!

Aber es gibt eben auch die anderen Seiten unseres Daseins. Wo sich so viel an Ungerechtigkeit, Sorgen und Nöten ereignet, fühlen wir uns auch redensartlich "von allen guten Geistern verlassen". Auch von Gott. Und doch sagt uns der Glaube, dass er sich auch dann nicht zurückzieht, sondern trotzdem mit seiner Liebe bei uns bleibt.

Wann, wo und wie wir die Spuren dieser Liebe finden, ist nicht abhängig von Feiertagen und bleibt uns Menschen überlassen. Begegnet sie uns nicht auch im Fahrstuhl?

Musik: Luigi Boccherini - "Andantino grazioso" aus dem Concerto B-Dur für Viloncello und Orchester

Und nun noch ein Wort zum Umgang mit dem Sehen. Wir stellen uns gern Fotos von Menschen in der Wohnung auf, mit denen wir uns verbunden fühlen. Um uns auf diese Weise an sie zu erinnern. An sie, die wir lieben. Denn: "Wo die Liebe ist, da ist das Auge", sagt Thomas von Aquin. Wir können sie also sehen!

Im Blick auf den Messias hatten es seine Jünger besonders gut. Sie konnten ihren Meister von Angesicht zu Angesicht sehen und seine Stimme hören. Diese Nähe ist uns nicht gegeben! Für uns gilt nur, richtig sehen zu lernen. Und dazu brauchen wir die Liebe.

Die Berührung der Seele

Noch einmal denke ich an die Emmausjünger. Wie sehr muss ihnen das Herz gebrannt haben, als sie die Spur Gottes in ihrem Leben wiederentdeckten. Nicht das Wissen um die Gebote, die Moral und die Gesetze verbinden uns also mit dem Schöpfer allen Lebens, sondern es ist die Berührung der Seele, es ist die bebende Welle des Glücks und es ist die zitternde Woge der Freude, die ihn dann vielleicht sogar sichtbar werden lassen.

Ich wünsche Ihnen von Herzen einen guten, gesegneten Sonntag.

Musik: Wolfgang Amadeus Mozart – Complete Church Sonatas – Sonata C-Dur KV 329 

Musikauswahl: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb

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