Das besondere Merkmal der Christen
Vor einiger Zeit fand ich beim Aufräumen meinen alten Kinderausweis. Schmunzeln musste ich über das Bild – ach, wie auch die Zeit vergeht. Dann las ich unter besondere Merkmale: Narbe über der rechten Augenbraue. Wenn ich hin fühle, kann ich sie heute noch genau spüren. Mir kam dabei der Gedanke: Wenn es einen Ausweis der Christen gebe, welches besondere Merkmal müsste dastehen? Woran erkennt man einen Christen? Ich erkenne den Christen am häufigen Gottesdienstbesuch? Am regelmäßigen Gebetsleben? Was würde unter besondere Merkmale stehen? "Der Christ weist sich durch strenge Moral aus und ist als eher weltfremd einzustufen!“ Vielleicht wären das die Antwort, die manche geben würden. Jesus selbst gibt in seinem Evangelium die Antwort und die klingt ganz anders: An der Liebe ist der Christ zu erkennen."Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt.“"(vgl. Joh 13,34) So jedenfalls sagt es Jesus heute im Evangelium nach Johannes, das heute in den katholischen Gottesdiensten verlesen wird.
Die Liebe als Erkennungszeichen der Christen! Ich muss dabei an eine "Tika" denken. Das ist der rote Punkt, der einem gläubigen Hindu auf die Stirn gedrückt wird. Dieser Punkt weist ihn als aktives Mitglied seiner Religion aus. Bei Christen war von Anfang an schon das unsichtbare Gütesiegel bekannt. "Seht wie sie einander lieben." So beschreibt der antike Schriftsteller Tertullian (2. Jh.) den Zusammenhalt der ersten Christen. Gott sei Dank haben die Christen von Anfang diesen Auftrag ernst genommen. Wenn wir diese Liebe leben, dann werden wir anziehend sein. "Sie waren ein Herz und eine Seele." So beschreibt Lukas in der Apostelgeschichte die Christen. Also um es kurz auszudrücken: "Typisch Christ!"
Viele große Heilige der Kirche werden von Christen verehrt, weil sie von besonderer Liebe zu Gott und dem Nächsten geprägt waren. Z. B. der Hl. Nikolaus v. Myra, der vielen vertraut ist. Er lebte im 4. Jahrhundert und viele Geschichten rangen sich um ihn, wie er den Menschen in Liebe zugewandt war. Oder auch der Hl. Martin von Tours mit seiner berühmten Geschichte, in der er mit dem Bettler seinen Mantel teilt. Die Hl. Elisabeth v. Thüringen, die Landgräfin, die sich den Notleidenden im 13. Jahrhundert zuwandte. Oder auch der Hl. Vinzenz v. Paul im 16. Jahrhundert, der selbst immer sagte: "Liebe ist Tat!" Oder es fällt mir noch die Hl. Mutter Teresa ein, die Ordensfrau, die sich in Indien der Liebe zu den Armen und Schwachen gewidmet hat. Eine Heilige unserer Tage.
Musik: 6 Brandenburg Concertos / 4 Orchestral Suites - Johann Sebastian Bach – Orchestersuite - Badinerie
Gottes- und Nächstenliebe
Im Evangelium des heutigen Sonntags aus Johannes spürt man, dass es gar nicht in erster Linie um die Liebe geht, die Menschen zu Gott haben, sondern um die Liebe, die sie zu den Menschen haben. Es geht um die Nächstenliebe.
Spannend. Da sagt dieser Jesus bei Johannes tatsächlich nicht: Liebt Gott! Auch nicht: Liebt mich, sondern er sagt: "Liebet einander".
An der Liebe, die ihr zueinander habt, daran werden andere die Christinnen und den Christen erkennen. Vielleicht fragt man sich etwas bang: Ist das dann nicht doch ein bisschen zu "flach", zu horizontal? Hat der Evangelist da vielleicht doch etwas übersehen? Wo bleibt denn da Gott? Nein, er hat nichts übersehen. Denn in dem, was Jesus da sagt und wie er es sagt, da ist Gott ja nicht außen vor, sondern Gott istmittendrin: Denn Jesus selbst, er, der Sohn Gottes, ist ja der Maßstab für diese Liebe, die Christen zueinander haben sollen.
"Liebet einander, wie ich euch geliebt habe", so sagt es Jesus.
Schon hier wird deutlich: Gottes- und Nächstenliebe sind eng verbunden. Jesus hat Gottes- und Nächstenliebe ganz eng zusammengerückt. Er wird gefragt, welches das größte, das wichtigste Gebot in Gottes Gesetzen sei, sozusagen der Schlüssel zum Ganzen. Was will Gott vor allen anderen von den Menschen? Welchen Weg weist er ihnen? Wie können Menschen in ihrem Leben eine Mitte finden? Wie können sie glücklich werden, und zwar nicht nur für sich allein, sondern mit anderen Menschen zusammen? Die Frage nach dem größten Gebot ist die Frage, worin Gott den Sinn des Menschen sieht. Jesus antwortet auf diese Frage aller Fragen mit dem Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe. Der Nächste, den es zu lieben gilt, ist nach dem alttestamentlichen Gesetz das Mitglied des Gottesvolkes. Jesus leugnet das nicht. Denn Gott beruft ja diejenigen in sein Volk, die seinem Namen die Ehre erweisen und der Gerechtigkeit dienen sollen. Die Mitglieder des Gottesvolkes bilden die Vorhut der Friedensmission, die Gott im Sinn hat. Aber Jesus weitet den Begriff des Nächsten aus. Er sieht nicht nur diejenigen als Nächste, die schon ausdrücklich zum Volk Gottes gehören, sondern all diejenigen, von denen Gott will, dass sie seine Nähe spüren und ihren Glauben, ihre Liebe und ihre Hoffnung neu entdecken. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist ein gutes Beispiel. Er gehört nicht zum Gottesvolk der Juden, aber er hilft dem, der unter die Räuber gefallen ist, und macht sich damit selbst zum Nächsten (Lk 10,25-37). Wer das sieht, ist schon auf dem richtigen Weg.
Musik: 6 Brandenburg Concertos / 4 Orchestral Suites - Johann Sebastian Bach - Orchestersuite - Bourrée I & II
Der biblische Weg des Menschen: die Liebe
Das mit der Liebe wird umso spannender, wenn wir auf die Welt blicken. Überall, nicht zuletzt in der Ukraine, wird gegen die Liebe gehandelt und bestimmen Hass und Gewalt die Menschen. Auf der Suche nach dem richtigen Weg, wenn Menschen fragen, wie das Miteinander und das gemeinschaftliche Zusammenleben gelingen und glücken kann, sollten sie nicht vergessen, dass der biblisch Weg LIEBE heißt. Und gerade darin hat Jesus ein Beispiel gegeben. In seinem Leben hat er gezeigt, was Liebe ist.
Die Liebe, sagt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth (vgl. 1. Kor. 13), kennt kein Zuviel. Sie ist geduldig und freundlich. Sie ist ohne Eifersucht. Liebe prahlt nicht. Liebe verletzt nicht. Liebe sucht nicht ihren Vorteil. Böses trägt sie nicht nach. Die Liebe ist die größte Kraft.
Die Liebe ist das einzige, das wächst, wenn der Mensch es verschwendet.
"Am Abend unseres Lebens wird es die Liebe sein, nach der wir beurteilt werden", so drückt es Roger Schutz (+2005), der Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé in Burgund aus. Allein die Liebe zählt also.
Das Gebot der Liebe zum Nächsten hat allerdings einen Zusatz. Und der hat es in sich. Es heißt nämlich: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" (Mk 12,31) Das bedeutet: Der Mensch muss lernen, sich selbst anzunehmen, zu sich selbst "ja" zu sagen. Vielen Menschen fällt das schwer. Darum sind sie uneins mit sich selbst und allzu sehr in ihren Problemen gefangen. Wenn ich aber begriffen habe, dass Gott mich liebt und annimmt, so wie ich bin, dann kann ich selbst leichter "ja" zu mir sagen. Und dies ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass ich andere Menschen lieben und annehmen kann.
Das Gebot, "den Nächsten zu lieben wie sich selbst", setzt ja offensichtlich voraus, dass ein Mensch "sich selbst liebt". Man darf das nicht mit Egoismus verwechseln! Wer zu sich selbst "ja" sagen kann, sich selbst zu akzeptieren vermag, der ist kein Egoist. Sehr viel hat es jedoch mit Selbstannahme zu tun. Mich selbst annehmen, so wie ich bin, mit allen Ecken und Kanten.
Musik: 6 Brandenburg Concertos / 4 Orchestral Suites - Johann Sebastian Bach - Orchestersuite - Air
Gott bietet dem Menschen seine Freundschaft an
Die Erfahrung zeigt: Wer es verlernt hat, etwas zu genießen, wird auf die Dauer selbst ungenießbar. Wer sich selbst nichts gönnt, gönnt auch anderen nichts. Wer sich selbst nicht ausstehen kann, vermag auch nur schwer andere auszustehen.
Und umgekehrt: Wer andere hasst und ablehnt, hasst meistens auch sich selbst und lehnt sich selbst ab. Wie der Herr die Menschen geliebt hat, so sollen Christen einander lieben. Da stellt sich also die Frage: Wie ist denn die Liebe, mit der Jesus Menschen geliebt hat? Was macht sie aus? Was macht sie so "besonders"?
Wenn Christen der Liebe Jesu und damit der Liebe Gottes auf die Spur kommen wollen, dann erfahren sie, wie Gott zu den Menschen ist. Sie dürfen einen Gott feiern, der den Menschen immer wieder neu seine Freundschaft und seine Liebe anbietet, dem keiner zu gering ist. Sie erfahren einen Gott, der sie nicht abschreibt, wenn sie etwas falsch gemacht haben und der sie nicht fallen lässt. Sondern es begegnet ihnen ein Gott, der den Menschen nachgeht, so lange, bis er sie gefunden hat. Es ist also ein Gott, der immer wieder einen neuen Anfang mit den Menschen wagt und ihnen eine neue Chance gibt.
Das dürfen Christen in ihren Gottesdiensten auch feiern. Eine Liebe, die nicht aufhört, sondern die anhält; die sucht, weil sie heilen und retten will. Eine Liebe, die aus der Barmherzigkeit Gottes zu uns Menschen entspringt. Denn Gott kann gar nicht anders als barmherzig zu sein, wenn es um den Menschen geht. Und diese Barmherzigkeit, die soll man auch an den Christen entdecken und spüren. Sie soll deutlich werden im Umgang miteinander, an der Liebe, die sie zueinander haben.
Den Menschen liebevoll zugewandt sein
Und deshalb müssen sich Christen hin und wieder fragen lassen: Wie leben sie denn ihr Christsein? Was kommt da „rüber“, wenn man ihnen begegnet? Sind sie einladend mit der Art und Weise wie sie glauben und über Gott reden oder schrecken sie eher ab?
Der österreichische Theologe und Priester Prof. Paul Zulehner (*1939) sagte einmal: "Gott ist nicht auf die Welt gekommen, um die Menschen frömmer zu machen, sondern um die Frommen menschlicher zu machen." Und ich denke, das ist der Weg für Kirche und Glaube auch heute. Es muss ein Weg sein, der liebevoll und den Menschen zugewandt gegangen wird. Den Gott selbst ist den Weg zu den Menschen gegangen, er ist selbst Mensch geworden.
Und deshalb ist diese Liebe so wichtig: die barmherzige, menschenfreundliche Liebe. Eine Liebe, die so guttut, dass sie sogar Wunden heilen und Schuld vergeben kann. Und genau daran soll auch der Christ erkannt werden. Es muss im Ausweis des Christen geschrieben stehen: die Liebe.
Musik: 6 Brandenburg Concertos / 4 Orchestral Suites - Johann Sebastian Bach - Orchestersuite - Ouverture
Musikauswahl: Regionalkantor Ulrich Moormann, Fulda