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Bei Gott gibt es kein Vergessen
Bildquelle: pixabay

Bei Gott gibt es kein Vergessen

Alexander Holzbach
Ein Beitrag von Alexander Holzbach, katholischer Pallottinerpater, Limburg
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Jedes Jahr, Anfang Mai erzählt Frau M. die gleiche Geschichte. Sie war mit einer Frauengruppe der Gemeinde unterwegs zu einem Wallfahrtsort. Nach einem Stopp auf einer Autobahnraststätte fand sie den Bus nicht mehr. Panik. Was tun? Es gab damals noch kein Handy. Nach einer gewissen Zeit kam der Bus wieder vorbei. Er hatte an der nächsten Abfahrt gedreht, als man erschrocken bemerkt hatte, dass Frau M. fehlte. Man hatte sie schlichtweg vergessen. Es gab ein großes Hallo und Wiedersehensfreude. Angeblich. Frau M. erzählt diese Episode immer mit einem Lachen. Aber dass sie es immer wieder erzählt, lässt mich vermuten, dass da eine Wunde blieb. Wer wird schon gerne vergessen?

Wer wird schon gerne vergessen?

Niemand wird gerne vergessen. Wie peinlich ist es etwa, wenn man jemandem begegnet und kommt gerade nicht auf den Namen. Wie unangenehm, wenn man was erzählen will und kommt nicht auf den Begriff. „Das liegt mir doch auf der Zunge…“, sagen wir dann. Tja, vergessen ist menschlich. Auch junge Leute vergessen. Alte viel mehr. Eine Art Makel in unserem Leben. Oder ein Vorteil, dass man nicht alles behalten muss. Mag sein. Zumindest glaube ich: Niemand möchte Wichtiges vergessen. Und niemand möchte selbst vergessen sein. Wenigstens wichtige, mir nahestehende, geliebte Menschen sollen sich doch (immer) an mich erinnern.

Kann denn eine Mutter ihr Kind vergessen?

Was, wenn die anderen mich vergessen? Was, wenn Gott mich vergisst? Für gläubige Menschen eine wichtige Frage, die schon in den Texten der Bibel auftaucht. Der Prophet Jesaja im Alten Testament übermittelt zwei wunderbare Worte. Einmal lässt er Gott sprechen: „Ich habe dich geformt. Du bist mein Knecht; Israel, ich vergesse dich nicht.“ (Jesaja 44, 21). Das zu hören oder zu lesen, muss für die Menschen damals ein ungeheurer Trost gewesen sein. Erst recht das andere Wort, das Jesaja Gott in den Mund legt: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde; ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände…“ (Jesaja 49, 15.16)

Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände

Worte, 3000 Jahre alt. Und auch wenn das Volk Israel gemeint ist, beziehen viele Menschen dieses Versprechen Gottes auf sich, wenn sie sich einsam und verlassen fühlen, missverstanden und enttäuscht. Zu wissen, Gott vergisst mich nicht, gibt neuen Lebensmut und innere Stärke.

Bei euch sind sogar die Haare auf dem Kopf gezählt

Und Jesus bekräftigt diese Zuversicht, wenn er sagt: „Verkauft man nicht fünf Spatzen für zwei Pfennige? Und doch ist nicht einer von ihnen vor Gott vergessen. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch nicht!“ (Lukas 12, 6.7). Fürchtet euch nicht! Johann Sebastian Bach hat dieses Motiv wunderbar aufgegriffen.  

Musik 1: aus: Johann Sebastian Bach, Motette „Fürchte dich nicht“ (CD: Johann Sebastian Bach: Motets. La Chapelle Royale / Collegium vocale, Dir. Philippe Herreweghe, Track 2, 0.00 – 1.40)

Jesus kennt das Gefühl von Menschen und sogar von Gott verlassen zu sein

Fürchtet euch nicht, sagt Jesus in der Tradition des Propheten Jesaja: Ihr seid nicht vergessen. Du bist nicht vergessen. Doch da kommen Zweifel. Selbst bei Jesus. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ein Vers aus Psalm 22. Jesus hat so am Kreuz gebetet, gerufen, vielleicht geschrien. Er kennt also das Gefühl, von Menschen und von Gott verlassen und vergessen zu sein. In den Psalmen kommt das oft sehr stark zum Ausdruck, etwa im Psalm 42: „Sagen will ich zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen?“

Die Bibel kennt jede menschliche Situation

Die Bibel kennt jede menschliche Situation, auch die dunkelsten. Eben auch das Vergessen-Sein. Und zugleich glaube ich ihrer grundsätzlichen Botschaft, dass es bei Gott kein Vergessen gibt – auch wenn Menschen manchmal daran zweifeln. 

Nimmt das Vergessen nicht zu?

Vergessen ist menschlich. – Und nimmt das Vergessen in einer gewissen Form nicht sogar zu? Ich denke an Menschen, die langsam, aber sicher, immer mehr in das Land des Vergessens entgleiten. Wer von uns kennt nicht solche Menschen in der eigenen Familie oder Umgebung oder aus den Berichten von Kolleginnen und Freunden? Menschen mit Demenz. Menschen, die von der Alzheimer-Krankheit erfasst sind. Wir stehen ihnen oft hilflos gegenüber, hoffen, dass sie selbst ihre Situation nicht als so schlimm empfinden wie wir, wie ihre Angehörigen, denen sie sich immer mehr entfremden.

Musik 2: aus: Johann Sebastian Bach: Motette „Komm, Jesu, komm“ (CD: CD: Johann Sebastian Bach: Motets. La Chapelle Royale / Collegium vocale, Dir. Philippe Herreweghe, Track 4, ca. 2.00)

Die Woche für das Leben schaut auf schwierige Situationen in unsere Gesellschaft

„Mittendrin. Leben mit Demenz.“ So ist die „Woche für das Leben“ in diesem Jahr überschrieben, ein ökumenisches Projekt, das evangelische und katholische Kirche seit fast 30 Jahren gemeinsam gestalten. Jahr für Jahr wird auf eine schwierige Situation in unserer Gesellschaft geschaut und aus dem christlichen Menschenbild heraus darauf aufmerksam gemacht, Hilfe angeboten. Die diesjährige „Woche für das Leben“ wurde gestern in der Leipziger Nikolai-Kirche eröffnet.

Wie umgehen mit Menschen mit Demenz?

„Mittendrin. Leben mit Demenz.“ Mit Veranstaltungen, Informationen, Gottesdiensten soll ein Bewusstsein gebildet und vertieft werden für die Situation von Menschen mit Demenz. Die „Woche für das Leben“ soll einen Umgang mit der Krankheit fördern, der nicht ausgrenzt, sondern Unsicherheiten und Ängste abbaut. Wie kann ich auf Menschen zugehen, die manchmal gleichsam geheimnisvoll erkrankt wirken? Wie kann ich ihnen gerecht begegnen, damit sie „mittendrin“ bleiben?

Seit 2020 gibt es die „Nationale Demenzstrategie“ der Bundesregierung

Das sind natürlich nicht allein Anliegen der Kirchen. In Deutschland gibt es derzeit rund 1,6 Millionen Demenz-Erkrankte. Viele schauen mit Sorge auf dieses Phänomen. Seit 2020 gibt es die so genannte „Nationale Demenzstrategie“ der Bundesregierung. In diese Initiative wollen sich die evangelische und die katholische Kirche einbringen. Denn viele Kirchenleute kennen Demenz aus den Familien, den Gemeinden, ihren Einrichtungen der Caritas und der Diakonie. Sie kennen die Not der Kranken und der Pflegenden, zuhause oder im Heim.

Musik 3: aus: Johann Sebastian Bach, Motette „Fürchte dich nicht“ (CD: Johann Sebastian Bach: Motets. La Chapelle Royale / Collegium vocale, Dir. Philippe Herreweghe, Track 2, 1.40 – 4.15)

Demenz verunsichert und macht Angst

Ehrlich gesagt: Mir macht Demenz Angst. Diese Krankheit ist der totale Gegenpol zum Lebensgefühl „Immer besser“, „Immer schneller“, „Immer weiter“. Sie verunsichert. Wie schon die Corona-Krise. Wie die Klima-Krise. Wie jetzt auch der Ukraine-Krieg. Solche Verunsicherung ist schwer auszuhalten. Ich bin jetzt 68 Jahre alt und habe Angst, selbst einmal in dieses Land des Vergessens zu entgleiten. Das Älter-Werden bringt ja auf jeden Fall die eine oder andere Einschränkung mit sich, da bin ich mir sicher, aber Demenz? Immer mehr nicht mehr über mich selbst bestimmen; immer mehr auf andere angewiesen sein! Ich habe das Gefühl, diese Krankheit ist irgendwie entwürdigend. Und zugleich sage ich mir: Nein, das stimmt nicht.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Als Christ glaube ich, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat. So steht es auf den ersten Seiten der Bibel. (vgl. Gen 1,2ff). Und weil der Mensch von Gott geschaffen ist, hat er eine ungeheure Würde. Die ist nicht verhandelbar, egal ob jemand jung oder alt ist, gesund oder krank, dement oder nicht. Und auch unser Grundgesetz hat dieses biblische Menschenbild übernommen: Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Mag das Hirn müde sein, - das Herz ist wach

Von daher bewundere ich Familienangehörige und Pflegende in Heimen, die Demenzkranken ihre Würde nicht nehmen. Die sie nicht wie Kinder behandeln, nur weil sie manchmal so wirken. Sie sind Menschen mit ihrer ganz persönlichen Geschichte, ihren Beziehungen, ihrer Freude und ihrem Leid, nur dass sie darüber kaum mehr sprechen können, sich kaum mehr erinnern können. Das heißt nicht, dass sie keine Freude hätten am Leben, an Blumen und Bäumen, an Musik und Märchen, an Gemeinschaft und Begegnungen. Menschen mit Demenz sind sehr empfänglich für Wertschätzung und Zuwendung. Mag das Hirn müde sein, das Herz mit all seinen Gefühlen ist hellwach. Darum sind sie sehr verletzlich und reagieren verängstigt, zuweilen aggressiv, wenn eine Situation sie überfordert, wenn sie sich gegängelt fühlen, bevormundet, nicht ernst genommen.

Diese Krankheit verlangt allen viel ab

Da ist der Umgebung viel abverlangt an Einfühlungsvermögen und Geduld und Selbstdisziplin, eine ganz besondere Sensibilität. Wirklich bewundernswert, was Menschen für Menschen tun und tun können. Und gleichzeitig bleiben bedrückende Fragen. Manche Beziehung zerbricht an dieser Krankheit. Manche Töchter und Söhne haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie Mutter oder Vater nicht mehr in ihrem Daheim halten können und sie in eine Einrichtung geben.

Einer trage des anderen Last

Im Neuen Testament, in seinem Brief an die Galater, schreibt der Apostel Paulus: „Einer trage des anderen Last“ (Gal 5,25). Das ist leicht gesagt und wird auch durchaus oft gelebt in schwierigen Situationen in den Familien, in Heimen. Aber es gibt eben auch Grenzen, Erschöpfung, ja Überforderung.

Wandert da ein Mensch ins Land des Vergessens?

Bei einem aufmerksamen Blick auf das Thema Demenz geht es nicht allein um die Erkrankten, sondern auch um die Angerhörigen, die Freunde, das Pflegepersonal. Sie müssen oft fast ohnmächtig erleben, wie jemand sich immer seltsamer benimmt, Worte verliert, Erinnerungen, Selbstsicherheit, Zukunftspläne. Immer mehr wandert da ein Mensch in das Land des Vergessens. Und man fragt sich, ist er noch der, der er mal war? Ist das noch mein Mann, meine Frau, meine Freundin, mein Kollege?

Der Mensch bleibt in seiner unantastbaren Würde immer die gleiche Person

Für mich ist eine starke Antwort das biblische Menschenbild. Der Mensch, geschaffen nach dem Bild Gottes, der die Liebe ist. Ja, der Mensch ist und bleibt in seiner unantastbaren Würde immer die gleiche Person.        

Musik 4: aus: Johann Sebastian Bach, Motette „Jesu, meine Freude“ (CD: Johann Sebastian Bach: Motets. La Chapelle Royale / Collegium vocale, Dir. Philippe Herreweghe, Track 3, 6.15 – 8.35)

Frühere Erinnerungen sind wach

Viele Seelsorgerinnen und Seelsorger nehmen sich in bewundernswerter Weise Demenz-erkrankter Menschen an. Sie wissen, dass sie besonders auf der Gefühlsebene ansprechbar sind. Sie haben die Erfahrung gemacht: Das Langzeitgedächtnis ist wach, Kindheitserinnerungen sind oft sehr präsent. Darum feiern Demenz-Kranke gerne Gottesdienste mit, in denen sie biblische Geschichten wiedererkennen; sie sprechen uralte Gebete mit, singen vertraute Lieder.   

Er sang die Lieder seiner Kindheit fröhlich mit

Ich selbst hatte meine erste Begegnung mit Demenz vor mehr als 20 Jahren, als einer meiner Mitbrüder im Orden ziemlich früh daran erkrankte. Der Mitbruder stammte aus Schlesien. Seine Schwester kam oft, erzählte Geschichten von früher und sang Lieder aus der Kindheit. Und manchmal geschah es, dass er plötzlich mitsang, mit frohen Augen. Einmal war ich dabei, da sang er das alte schlesische Marienlied: „Über die Berge schallts, Glöcklein, Dein Gruß.... Bringe der Mutter mein, über der Sterne Schein, auch meinen Gruß!“

Und sie bewahrte all diese Worte in ihrem Herzen

Daran muss ich heute denken, am 1. Mai. Für viele ein Ausflugstag. Oder Tag der Arbeit – trotz Sonntag. Heute beginnt aber auch der Monat, in dem manche noch Maialtäre mit Vergissmeinnicht schmücken, Maiandachten halten oder zu einem Marienwallfahrtsort gehen. Von Maria, der Mutter Jesu, wird mehrfach in der Bibel gesagt: „Und sie bewahrte all diese Worte in ihrem Herzen.“ (vgl. Lukas 2,51). Sie vergaß nie das Rätselhafte um ihren Sohn, konnte es wohl erst mit der Zeit deuten.

Gott bewahrt dich vor dem Vergessen

In diesem Wort „bewahren“ steckt für mich die tröstliche Botschaft: Bei Gott gibt es kein Vergessen. Wie Gott es beim Propheten Jesaja sagt: „Auch wenn eine Mutter ihr Kind vergessen würde, ich vergesse dich nicht.“ Ein gutes Wort, gerade jetzt in der „Woche für das Leben“ – „Mittendrin. Leben mit Demenz.“

Lass dein Gottvertrauen uns Beispiel sein

Bevor wir in das Magnifikat, wie es Johann Sebastian Bach vertont hat, hinein hören, schließe ich meine Gedanken an diesem 1. Mai mit einem Gebet zur Mutter Jesu:        

Maria, Du hast die Worte,
die über Jesus, Deinen Sohn, gesagt wurden, in Deinem Herzen bewahrt.

Stehe uns bei,
die Menschen, die uns in das Land des Vergessens zu entgleiten drohen,
in unserem Herzen und in unserem Handeln zu bewahren.

Stehe den Angehörigen und den Pflegekräften bei,
die die Würde der Kranken wahren und ihnen beistehen in ihrer Verletzlichkeit.

Lass Dein Gottvertrauen uns Beispiel sein,
dass auch wir vertrauen, dass es bei ihm kein Vergessen gibt.

Mögen Menschen uns auch vergessen, er vergisst sie – er vergisst uns nicht.

Musik 5: aus: Johann Sebastian Bach, Magnificat (CD: Johann Sebastian Bach: Magnificat BWV 243 / Cantata „Ich habe genug“ BWV 82, Schola Cantorum of Oxford / Jeremy Summerly / Northern Chamber Orchestra / Nicholas Ward, Track 1, ca. 3.15) 

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