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Ostern in Zeiten von Krise und Krieg
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Ostern in Zeiten von Krise und Krieg

Dr. Peter Kohlgraf
Ein Beitrag von Dr. Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz
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In diesem Jahr ist für mich das Osterfest besonders wichtig. Die zentrale Botschaft dieses christlichen Festes lautet: Am Ende hat das Leben das letzte Wort – nicht der Tod. Und diese Botschaft habe ich dieses Jahr besonders nötig. Ich freue mich von Herzen über jede Hoffnung und Ermutigung. Zwei Jahre Pandemie, mit viel Frust und Verzagtheit, Tod und Trauer, Ärger und Verletzungen. Und dann ist da der Krieg in der Ukraine, auf den ich mit so vielen Menschen ohnmächtig schaue.

Die besten Seiten von Menschen

Mit vielen Menschen teile ich die Sorge: Wie kann es weitergehen? Neben den Friedensgebeten gab und gibt es in den Kirchen und in der Zivilgesellschaft großartige, ermutigende Solidarität: Menschen auch bei uns nehmen Geflüchtete auf, bieten Unterstützung an, sammeln Spenden. Da zeigen sich die besten Seiten von  Menschen – und gleichzeitig geht das Leiden und Sterben im Osten Europas weiter, und natürlich auch in anderen Regionen der Welt.   

"Kein Opium des Volkes"

Ostern kann für mich nicht bedeuten: „Alles halb so schlimm“ oder „alles wird gut“. Derartige Floskeln helfen niemandem, auch mir nicht. Das Osterfest darf daher für mich kein religiöser Zuckerguss sein, der über alles Leid der Welt gegossen wird. Es darf auch keine Vertröstung sein, kein „Opium des Volkes“, das die Probleme mit frommen Worten überdeckt oder mich in eine religiöse Traumwelt entführt, die mit meinem Alltag nichts zu tun hat. Die biblischen Texte des Osterfestes blenden das Leid ganz und gar nicht aus, und sie machen mir Mut, gerade in dieser schwierigen und zerrissenen Welt.

Am Ostermontag wird in den katholischen Gottesdiensten das Evangelium von den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus verkündet. Hören wir die Vertonung dieser Erzählung aus der „Auferstehungshistorie“ von Heinrich Schütz:

MUSIK 1: Heinrich Schütz, Auferstehungshistorie [9] (bis 2:28) (CD: Heinrich Schütz, Auferstehungshistorie, Dresdner Kammerchor, Ltg. Hans-Christoph Rademann)

"Den Boden unter den Füßen weggezogen"

Die Erzählung von den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus findet sich im letzten Kapitel des Lukasevangeliums (Lk 24,13-35). Der Evangelist Lukas beschreibt eine Erfahrung der ersten Jünger Jesu, und er will sicher nicht nur eine historische Begebenheit berichten. Ich meine, hier geht es um Erfahrungen suchender und glaubender Menschen bis heute. Auch die beiden Jünger damals sind verzweifelt über Gewalt und Tod: Jesus, auf den sie ihre Hoffnung gesetzt haben, ist getötet worden. Ihr Vertrauen in das Gute und in eine hoffnungsvolle Zukunft ist zerstört, sie fühlen sich verraten und traurig. Da ist auch ihr Glaube an Gott zerstört. Hatte Jesus nicht mit so großen Worten vom liebenden Vater gesprochen, seiner Allmacht und Güte? Und nun das!? Ich stelle mir vor: Diesen beiden wurde, wie anderen auch, der Boden unter den Füßen weggezogen.

Gott bleibt dem Menschen treu

Aber dann gesellt sich jemand zu den beiden auf ihrem Weg nach Emmaus. Er fragt sie nach ihren Erfahrungen. Die beiden Jünger erkennen ihn aber nicht. Sie rechnen nicht mit ihm – warum auch? Der unerkannte Dritte erklärt ihnen: Leben und Sterben Jesu sind Teil einer großen Geschichte Gottes mit den Menschen. Gott bleibt den Menschen treu, auch jetzt. Die Wanderer kommen zu einer Herberge und laden ihren Weggefährten ein, bei ihnen zu bleiben. Beim Essen erkennen sie Jesus als Auferstandenen – als er das Brot bricht und es ihnen reicht. So hatte er es immer gemacht. Sie spüren, wie ihr „Herz brennt“. Am Ende laufen sie nach Jerusalem zurück und bezeugen der Gemeinde dort: Jesus lebt!

Hören wir nochmals einen Abschnitt aus der „Auferstehungshistorie“ von Heinrich Schütz:

MUSIK 2: Heinrich Schütz, Auferstehungshistorie [9] (7:48 – 9:27) (CD: siehe Musik 1).

Warum ist das alles so?

Die ersten Jünger Jesu sind mir in ihren Erfahrungen von Ostern sehr nahe. Und sie geben mir ihre Erfahrung weiter: An Jesus zu glauben und auf ihn zu bauen, garantiert nicht automatisch ein Glücksgefühl. Menschen setzen auf Jesu Nähe und seine Verheißungen, sie sehen in ihm ihren Erlöser und Retter. Und dennoch kommen Zweifel und Fragen, für die sie keine einfachen Lösungen haben; Leid und Unglück bleiben auch den Glaubenden nicht erspart. Auch Jesus selbst hat solche Erfahrungen gemacht, dieser Sohn Gottes, an den Christinnen und Christen glauben. Auch in seiner Nachfolge ist für mich nicht einfach alles gut. An manchen Tagen fühle ich mich Jesus sehr nahe. Ich spüre seine Nähe, ich bin begeistert in seiner Nachfolge. An anderen Tagen ist er nicht zu spüren. In meinem Umfeld erlebe ich Krankheit und Tod. Ich sehe, wie die Welt ist. Derzeit überwiegt das Dunkel, so ist meine Wahrnehmung. Und ich habe keine einfache Antwort auf die Frage: Warum ist das alles so? Keine Antwort auf die Frage: Warum gibt es Kreuz und Leid?

Sein Reich...beginnt in dieser Welt

Manchmal bestimmen den Glaubensalltag nur die Routinen, nicht das gute Gefühl. Diese Erfahrungen, so denke ich manchmal, brachen ja auch nicht erst mit dem Kreuzestod Jesu auf. Die Menschen damals litten an der Besatzung durch die Römer und erhofften sich einen Messias, der politische Befreiung bringen sollte. Jesus sagt zu ihnen: Mein Reich ist nicht von dieser Welt, aber es beginnt in dieser Welt. Als er ihnen einmal Brot in der Wüste gibt, wollen ihn die Menschen zum König machen (vgl. Johannes 6,1-15). Aber ein König dieser Art will er auch nicht sein. Sie staunen, wie begeisternd er predigen kann. Aber seine radikalen Forderungen wollen sie nicht hören, schon gar nicht befolgen. Er kann unendlich liebevoll sein, aber ebenso zornig, wenn es um die Würde der Menschen und den Anspruch Gottes geht. Als er auf den gemeinsamen Wegen vom Kreuz spricht, verstehen ihn seine Jünger nicht und wollen etwas Schöneres hören. Einmal sagt er: Nur derjenige findet das Leben, der bereit ist, sich hinzugeben (vgl. Mt 16,25). Ich habe den Verdacht: Damals haben dies nur wenige verstanden.

Bilder, die sich festgesetzt haben

Glauben beginnt für mich dort, wo ich in das Gespräch mit diesem Jesus gehe, nicht um mich und meine Bedürfnisse bestätigen zu lassen, sondern wo ich ihn mit seinen Ansprüchen an mich zu Wort kommen lasse. Auf dem Weg nach Emmaus erklärt der „Dritte“ den beiden Jüngern: Genau so hat es kommen müssen. Offenbar haben sie die ganze Zeit nicht richtig zugehört, oder sie haben ihre eigenen Ideen zum Maßstab gemacht. Und damit haben sie nicht akzeptieren können, dass Jesus seinen Weg so konsequent gegangen ist, dass am Ende der gewaltsame Tod stehen musste. Ich habe den Eindruck: Manchmal müssen meine selbstgemachten Gottesbilder sterben, damit ich den Gott, für den Jesus steht, besser verstehen kann. Wer sich heute von Gott lossagt, meint manchmal vielleicht gar nicht den wirklichen Gott des Judentums und des Christentums, sondern Bilder, die sich im Inneren festgesetzt haben, und die ihn oder sie nicht mehr bewegen oder gar abstoßen.

Nicht Flucht, sondern Hingabe ist seine Antwort

Die Enttäuschung der beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus ist möglicherweise ein zerstörtes selbstgemachtes Bild, wie Gott sein müsste. Die beiden Jünger müssen neu lernen, mit den Überraschungen Gottes zu rechnen. Jesus selbst ist dem Dunkel nicht ausgewichen, er steht nicht für eine Verdrängung der Wirklichkeit. Er steht für die Botschaft: Das Leben setzt sich gerade in diesem Dunkel durch! Und zwar gerade indem ich nicht weglaufe, sondern mich den Widrigkeiten aussetze und darin Gottes Reich suche. Nicht Flucht, sondern Hingabe ist Jesu Antwort auf die Wirklichkeit.

Hören wir Ausschnitte aus einer Kantate von Johann Sebastian Bach, in denen diese Gedanken anklingen: „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen“ und „Kreuz und Krone sind verbunden“. 

MUSIK 3: Johann Sebastian Bach, BWV 12 [3] Wir müssen durch viel Trübsal (0:48) und [4] Kreuz und Krone sind verbunden (bis 2:04 oder 2:47 oder 3:59) (CD: Bach-Cantatas Vol. 24, The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists, Ltg. John Eliot Gardiner, William Towers (alto)).

Das macht den Osterglauben so überzeugend

Mich hat immer wieder eine Aussage überrascht, die die Osterevangelien wie ein roter Faden durchzieht. Die Frauen und Männer in der Nachfolge Jesu zweifeln, sie wollen nicht glauben, dass der Gekreuzigte lebt. Man könnte ja umgekehrt meinen: Sie glauben sofort fest an die Auferstehung, weil sie verzweifelt wünschen: Der Kreuzestod kann nicht wahr sein. Die gute Sache Jesu muss weitergehen. Aber so ist es nicht. Der Glaube, dass das Leben siegt, kommt nicht aus dem frommen Wunsch der Jüngerinnen und Jünger. Stattdessen muss er ihnen von außen geradezu aufgedrückt werden. Das macht den Osterglauben für mich so überzeugend. Die Evangelien beruhen auf dem Zeugnis der Jüngerinnen und Jünger. Dieses Zeugnis entsteht nicht in Menschen, die religiös übersensibel sind; vielmehr sind diese Menschen sehr realistisch, enttäuscht, unendlich traurig. Sie stehen vor dem leeren Grab und wissen nicht: Was hat das zu bedeuten? Die Jünger auf dem Weg nach Emmaus haben Jesus als Gesprächspartner, aber sie erkennen ihn nicht. Seine Jüngerin Maria Magdalena, so erzählt das Johannesevangelium, spricht mit ihm, weil sie ihn für den Gärtner hält.

Niemand hat ihn für sich allein gepachtet

Diese Glaubenszeugnisse beschäftigen mich. Denn natürlich frage ich mich: Sind die Zeuginnen und Zeugen der ersten Stunde glaubwürdig? Und je länger ich mich in die biblischen Texte hineingebe, desto glaubwürdiger werden sie. Die Osterhoffnung beruht nicht auf Wunschdenken. Daneben befriedigen die Evangelien in keiner Weise meine Neugier, wie sich das mit der Auferstehung verhält. Sie sind nicht spektakulär, da gibt es in den Osterevangelien relativ wenig „Blitz und Donner“. Jeder und jede macht eigene Erfahrungen mit dem Auferstandenen. Der Theologe und Neutestamentler Thomas Söding schreibt: Der auferstandene Christus spricht die Menschen ganz persönlich an: „mit ihren Hoffnungen und Ängsten, ihren Erfahrungen und Aufgaben.“ (…) Die Auferstehung „enthebt Jesus nicht der Welt und den Menschen, sondern begründet eine neue Nähe“. Die biblischen Texte führen mich in meine ganz persönliche Christusbegegnung. Niemand hat Jesus für sich allein gepachtet, sondern Jesus findet offenbar einen Weg, jedem Menschen eine eigene Wegbegleitung anzubieten.

Das Lebensprogramm der Kirche bis heute

Ich bin Bischof in einer Kirche, die sich dies zum Programm gemacht hat: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ So beginnt ein wichtiger Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“. Die Erfahrung der ersten Jüngerinnen und Jünger soll das Lebensprogramm der Kirche bis heute sein. Die Glaubwürdigkeit der ersten Jüngerinnen und Jünger erschöpft sich nicht in dem theoretischen Bekenntnis: Jesus ist auferstanden. Ihr Bekenntnis wird glaubwürdig, weil sie beginnen, in Tat und Wort die Liebe und die Hoffnung weiterzugeben, die ihnen geschenkt worden ist.

Sie sehen die Not und handeln

Viele Menschen haben die Kirche so nicht erlebt und erleben sie so nicht. Aber ich schaue in die aktuellen Notsituationen dieser Welt. In der Ukraine sind kirchliche Hilfsorganisationen mit diesem Programm unterwegs, Caritas International und das Hilfswerk Renovabis zum Beispiel. Viele Menschen überall in Europa und auf der ganzen Welt helfen aus christlicher Überzeugung, geben aus echter Nächstenliebe Geflüchteten Obdach und Zukunft und setzen sich ein für Frieden und Demokratie.

MUSIK 4: Jutta Bitsch, Sucht den Lebendigen (1:48) (CD: Singt Gott den neuen Lobgesang, Ensemble St. Josef, Ltg. Regina Engel)

Ich habe an die Glaubwürdigkeit der ersten Osterzeuginnen und – zeugen erinnert. Sie haben das weitergegeben, was sie erlebt haben: Jesus wendet sich ihnen zu in ihrer je eigene Lebenssituation. Bis heute tun dies Menschen auch aus dem Glauben an den Auferstandenen heraus. Sie sehen konkrete Not und handeln. Vielleicht ist das genau die konkrete Nachfolge, in die der auferstandene Jesus ruft. Ich schaue in meine eigene Biographie. Die Kirche und die Botschaft des Evangeliums waren für mich nicht allein glaubwürdig durch eine intellektuelle Stimmigkeit – das auch. Aber mehr noch waren es glaubwürdige Menschen, die mich in meiner eigenen Lebenssituation, in meinen Freuden und Sorgen, in meiner Trauer und Angst ernstgenommen haben und echte Wegbegleiter geworden sind.

"Christus bleib bei uns, wenn es Abend wird"

Mit den Augen des Glaubens sehe ich in ihnen den auferstandenen Christus an meiner Seite. Sie haben mir den Glauben nicht aufgedrängt. Sie haben mir nicht geholfen, um zu missionieren, sie waren eher hilfreich zur Seite, ohne eine Absicht zu verfolgen. Meine Antwort im Glauben habe ich dann in persönlicher Freiheit gegeben. Manchmal haben wir auch Zweifel und Ohnmacht geteilt, aber wir waren nie ohne Trost; es gab immer die christliche Hoffnung. 

Jesus bricht das Brot, als er mit den Jüngern in Emmaus zusammensitzt. Und bleibt so bei den Menschen. Wegen dieses Brotes bleibe ich der Kirche verbunden – und wegen der vielen großartigen, glaubwürdigen Menschen, die keine Supermänner und Superfrauen sind, aber Zeuginnen und Zeugen des Lebens und der Hoffnung. Ich feiere Ostern in dieser Zeit, die geprägt ist von Krankheit und Krieg, von Sorge und Angst, von zerstörtem Vertrauen auch in die Kirche. Ostern gibt mir keine einfachen und schnellen Rezepte an die Hand. Das Fest entbindet mich nicht davon, immer wieder nach Gott zu suchen und meine Beziehung zu ihm weiterzuentwickeln. An Ostern bitte auch ich, wie die Jünger in Emmaus: Christus, bleib bei uns, wenn es Abend wird in der Kirche und in der Welt!

Mit dieser Aufgabe werde ich nie fertig sein

Ostern nimmt mich in die Verantwortung: Auch ich soll zu einem glaubwürdigen Zeugen des lebendigen Christus werden. Ich kann mich nicht meiner Aufgabe entziehen, Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen heute zu sehen und dabei zu sein. Für mich als Christ heißt meine lebenslange Aufgabe, mich damit auseinanderzusetzen: Warum ist Christus den Weg der Hingabe an die Menschen bis zum Ende gegangen? Und wie hat er gerade darin das wahre Leben gefunden? Mit dieser Aufgabe werde ich nie fertig sein. Und immer wieder werde ich mir die Bitte der beiden Jünger in Emmaus zu eigen machen: „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden. Der Tag hat sich geneigt.“ (Lukas 24,29)

MUSIK 5: Josef Gabriel Rheinberger, Abendlied (2:30) (CD: Calmus. Best of 20 years, Calmus-Ensemble).

(Musikauswahl: Regionalkantorin Mechthild Bitsch-Molitor, Mainz)

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