Beitrag anhören:
Palmsonntag 2022
Pixabay

Palmsonntag 2022

Dr. Michael Gerber
Ein Beitrag von Dr. Michael Gerber, Bischof von Fulda
Beitrag anhören:

Herzlich begrüße ich Sie zur Morgenandacht am heutigen Palmsonntag. Die biblischen Texte des heutigen Tages laden dazu ein, dass wir uns hinein nehmen lassen in die Dramatik des Weges Jesu hin zu Tod und Auferstehung.

Musik

Die Palmsonntagsliturgie, wie sie in der katholischen Kirche heute gefeiert wird, weist einen auffälligen Kontrast auf: Gleich zu Beginn des Gottesdienstes wird das Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem verlesen. Danach folgt die Palmprozession und unmittelbar anschließend scheint es einen atmosphärischen Bruch zu geben. Es folgt ein Evangelientext vom Leiden und Sterben Jesu, gemäß der Leseordnung in diesem Jahr nach dem Lukasevangelium. Strahlend jubelnder Einzug in Jerusalem und Leiden Jesu – passt das zusammen?

Versetzen wir uns einen Moment in die Zeit, in welcher diese Texte entstanden sind. Es sind die späten Jahrzehnte des Ersten Jahrhunderts. Viele Christen kamen noch ganz aus der Tradition des Judentums und fühlten sich mit der Stadt Jerusalem weiterhin eng verbunden, auch wenn ihre Familien längst in anderen Städten des Mittelmeerraumes heimisch geworden waren. Sie waren es von alters her gewohnt, ihre Gedanken gerade im Frühjahr nach Jerusalem auszurichten. „Nächstes Jahr in Jerusalem“ wünschen sich auch heute noch Juden auf der ganzen Welt, wenn sie in diesen Tagen das Pessachfest feiern.

Doch in jenen Jahren des ausgehenden Ersten Jahrhunderts waren es ganz andere Assoziationen, die sich mit Jerusalem verbanden. Im Jahre 70 nach Christus hatte nach vorausgegangenen Unruhen der spätere Kaiser Titus genau am Pessachfest mit der Belagerung Jerusalems begonnen. Der Kampf zog sich bis Anfang September hin, dann war Jerusalem erobert und sowohl die Stadt als auch der Tempel weitgehend zerstört. Für die Entwicklung des Judentums und auch des Christentums  war und ist dies ein einschneidendes Ereignis.

Wenn also sich die ersten Christen an den Einzug Jesu in Jerusalem erinnerten, dann schwang dabei unweigerlich auch die Trauer über die Zerstörung der Stadt mit.

Mit großer Wahrscheinlichkeit spielten dabei auch Texte eine Rolle, die Jahrhunderte zuvor entstanden waren, als die Babylonier Jerusalem erobert hatten. Wir finden sie in der Bibel als die Klagelieder des Jeremia. Über die Jahrhunderte hinweg bis heute haben sie für die Liturgie der Passionszeit eine wichtige Bedeutung und leider oft eine erschreckende Aktualität.

So floh nach der Zerstörung Dresdens im Februar 1945 der Dresdener Kreuzkantor Rudolf Mauersberger in seinen Heimatort Mauersberg im Erzgebirge. Am Karfreitag des gleichen Jahres beschäftigte er sich intensiv mit den Klageliedern des Jeremia. Unter dem Eindruck der zuvor erlebten Zerstörung wählte Mauersberger aus den fünf Kapiteln die aus seiner Sicht ausdrucksstärksten Sätze aus und komponierte am Karfreitag und Karsamstag 1945 seine Motette. Sie wurde am 4. August 1945 in der ersten Vesper des Dresdner Kreuzchores nach dem Krieg in der ausgebrannten Kreuzkirche uraufgeführt. Seither unzählige Male wiederholt, klingen sie angesichts der Bilder, die uns seit Wochen aus dem Osten Europas erreichen, noch einmal ganz eigen.

Musik: Rudolf Mauersberger, Motette „Wie liegt die Stadt so wüst“ 

Dresden, Grosny, Aleppo und jetzt Mariupol – dazwischen unzählige weitere Städte und Ortschaften, deren Tragik es oft kaum in den Fokus unserer Aufmerksamkeit schafft. „Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war…“ der Text aus dem Alten Testament und die Vertonung von Mauersberger sind leider hoch aktuell. „… die voll Volks war…“ Wieder einmal sind Millionen von Menschen auf der Flucht, wieder einmal Menschen in Ungewissheit, wie es ihren Liebsten geht, in Ungewissheit, was genau in ihrer Heimat vorgeht, in Ungewissheit, was ihre eigene Zukunft anbelangt.

Viele von uns haben in diesen Tagen berührende Begegnungen mit Menschen, die aus der Ukraine kommen. Vor gut drei Wochen in einem Zug, der aus Berlin kam. Unvermittelt sitze ich in einem Abteil mit einer ukrainischen Mutter und ihren beiden halbwüchsigen Kindern. Der Vater fehlt natürlich – musste als wehrfähig an der Grenze zurückbleiben. Per elektronischem Übersetzer können wir uns verständigen. Die Familie will weiter an einen Ort im Süden Deutschlands, dort wohnt die Schwester der Mutter. Per Kurznachricht gibt sie Hinweise, wo die Mutter mit den Kindern umsteigen soll. Die ältere Tochter sondiert per Mobiltelefon, wie es den Lieben in der Heimat geht.

Die Anspannung ist allen ins Gesicht geschrieben. Nach einer Weile steigt in meiner Seele eine Musik auf, die ebenfalls in die Passionszeit gehört. Darin ist von Maria, der Mutter Jesu die Rede, wie sie leidet, als ihr Sohn am Kreuz hing. Da heißt es – ebenfalls unzählige Male vertont:

Stabat Mater dolorosa
iuxa crucem lacrimosa
dum pendebat filius.

Christi Mutter stand mit Schmerzen
Bei dem Kreuz und weint von Herzen
Als ihr lieber Sohn da hing.

In jener Stunde im Zugabteil mit den Geflüchteten aus der Ukraine kommt mir unwillkürlich der Gedanke:

Passion 2022 - das Stabat Mater klingt etwas modifiziert:
Fugit Mater dolorosa
Sine viro lacrimosa
Secum duos liberos 

Es flieht die Mutter schmerzensreich
Ohne Mann doch voller Tränen
Nur die Kinder bei sich wähnend.

Musik: Antonio Caldara, Stabat Mater                                             

Seit der Tradition der frühen Kirche wird Maria, die Mutter Jesu eng mit der Stadt Jerusalem verbunden. Hier hat sie den Evangelien zufolge Tod und Auferstehung Jesu miterlebt. Spätere Zeiten nennen Maria bisweilen auch die „Tochter Zion“ und greifen damit ein Bild aus dem Alten Testament auf. In einigen frühchristlichen Schriften, den so genannten Apokryphen, ist zu lesen, dass Maria bereits als Kind im Umfeld des Jerusalemer Tempels gelebt hat. Dieses Motiv findet sich auch immer wieder in der christlichen Kunst.

Dahinter steckt vermutlich auch ein Gedanke, der die Christen in den ersten Jahrzehnten sehr bewegt hat. So fragt Paulus im Ersten Korintherbrief die Gemeinde: Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? (1 Kor 3,16).  Die Mutter Jesu hat erlebt, dass in ihrem Leib der herangewachsen ist, der später Gottes Sohn genannt wird. Bei den ersten Christen wächst die Überzeugung: Das, was Maria, die Mutter Jesu erlebt hat, das erleben jetzt auf ganz eigene Weise auch wir.

Zerstört sind wenige Jahrzehnte später die Stadt Jerusalem und der Tempel. Doch gerade jetzt wächst die Überzeugung, dass der Mensch selbst Tempel Gottes ist. Wir Menschen tragen – wie es Paulus an anderer Stelle ausdrückt – einen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. (2 Kor 4,7).

Jerusalem – die Stadt, mit der durch ihre Biografie auch ganz besonders Maria, die Mutter Jesu verbunden ist. Die Stadt, die in diesen Wochen durch ihre furchtbare Zerstörung in den Focus der Aufmerksamkeit gerückt ist, trägt den Namen der Mutter Jesu – Mariupol – Stadt Mariens. Das hat mich hat in diesen Wochen eigenartig berührt. Wie wenn das ein großes Ausrufezeichen ist: Schaut, was in dieser Stadt geschieht. Schaut, wie hier auf furchtbare Weise die Zerbrechlichkeit des Menschen sichtbar wird und seine Berufung zerstört wird, Gefäß und Tempel des Heiligen zu sein.  

Palmsonntag 2022 – Christen auf der ganzen Welt gedenken des Einzugs Jesu in Jerusalem. Eine Stadt – damals wie heute – in der der Friede sehr brüchig ist. Wir gedenken der Städte, die längst zerbombt sind, in denen sich der Staub der Trümmer auch auf die Seelen gelegt hat. Wir werden daran erinnert, dass jeder Mensch gerade in der Brüchigkeit und Zerbrechlichkeit Heiliges in sich trägt. Der Palmsonntag, an dem die Stadt Jerusalem Jesus empfängt, kann uns bewusst machen, dass jeder Mensch dazu berufen ist, Heiliges zu empfangen und dass wir einander so begegnen, dass diese Achtung vor dem Heiligen uns prägt.

Musik: John Stainer, Motette „God so loved the world“     

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren