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Liebe ohne Wenn und Aber
Bild: dasilva_pixabay

Liebe ohne Wenn und Aber

Martina Patenge
Ein Beitrag von Martina Patenge, Katholische Referentin für Glaubensvertiefung und Spiritualität, Kardinal-Volk-Haus Bingen
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Es ist verfahren: Zwei Brüder, wie sie unterschiedlich nicht sein könnten. Der eine brav und fleißig im Betrieb seines Vaters. Der andere ein Hallodri, der sein vorzeitiges Erbe mit vollen Händen rauswirft. Eine Katastrophe für die Familie. Wie mögen Vater und Mutter gelitten haben an diesem verkommenen Sohn? Vermutlich haben sie sich oft gefragt: Was haben wir nur falsch gemacht, dass er sich so entwickelt hat? Und wie froh werden sie gewesen sein, dass wenigstens der andere Sohn anständig geworden ist. Am heutigen vierten Fastensonntag wird diese Geschichte aus der Bibel in den katholischen Gottesdiensten vorgelesen.

Jesus setzt sich mit Betrügern und Sündern an einen Tisch

Jesus verbindet damit eine Absicht. Er möchte, dass seine Zuhörerschaft ihn besser verstehen kann. Denn sie regen sich immer wieder über ihn auf. Er umgibt sich mit Leuten, die nicht unbedingt zur feinen Gesellschaft gehören. Igitt! Und dann setzt er sich auch noch mit Betrügern und Sündern an einen Tisch? Pfui! Deshalb erzählt Jesus ihnen diese Geschichte, und sie beginnt so:

Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht! Da teilte der Vater das Vermögen unter sie auf. Nach wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land. Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen. (Lk 15,11-14)

Wieviel Scham und Versteckspiel damit verbunden ist

In vielen Familien gibt es solche und ähnliche Situationen: Sorgenkinder, schwarze Schafe, ratlose Eltern. Und dazu überforderte Geschwister, weil sich fast alles nur um das eine Geschwisterkind dreht, das irgendwie aus der Spur geraten ist. Wie viel Verzweiflung, wieviel Scham, wieviel Versteckspiel ist damit oft verbunden! Niemand soll wissen, was sich in der Familie oder Lebensgemeinschaft abspielt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telefonseelsorge zum Beispiel können Lieder davon singen. Wie oft hören sie von solchen Problemen. Von Enttäuschungen, Streit und Scham. Weil man es nicht besser geschafft hat. Weil da keine glückliche Familie zum Vorzeigen ist. Weil irgendwie alles nur schiefgegangen ist. Weil das Ganze irgendwie total verfahren ist.

Musik 1: Heitor Villa-Lobos aus: Fantaisie concertante, 3. Satz: (CD: Heitor Villa-Lobos)

Gott sieht auch Menschen, die keinen Erfolg haben

Warum erzählt Jesus diese Geschichte von dem verkommenen Sohn und seinem großzügigen Vater? Er möchte, dass seine Zuhörerinnen und Zuhörer verstehen, wieso er sich oft mit Menschen umgibt, die so gar nicht salonfähig sind. Das ist das eine Ziel seiner Rede. Es gibt jedoch noch ein zweites Ziel. Jesus will den vielen Zuhörenden etwas über Gott sagen. Er will zeigen, wie Gott zu den Menschen steht, ob sie nun erfolgreich sind oder nicht. Und wie Gott zu Menschen steht, die einen Fehler gemacht haben. Und so erzählt er weiter:

Als der Sohn alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er begann Not zu leiden. Da ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten. Er hätte gerne seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen, aber niemand gab ihm davon.

Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss; ich aber komme hier vor Hunger um. Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner! Dann brach er auf und ging zu seinem Vater. (Lk 15, 14–20)

Musik 2: Sigfrid Karg-Elert aus: 17 kleine Charakterstücke: „Gravitätisch, breit ausladend“ (CD: Thomas Drescher Laetabitur cor nostrum)

Und doch traut er sich wieder nach Hause

Da wird einer vom gutsituierten Erben und Playboy erst zum Schweinehüter und dann vielleicht Tagelöhner des eigenen Vaters. Was für ein Abstieg. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – ich habe eine Riesen-Hochachtung vor diesem jungen Mann. Der hat Mut! Sitzt im Dreck, hat sein Leben versaut und traut sich doch wieder nach Hause. Ob ich mich das in einer solchen Situation getraut hätte? Da bin ich mir nicht so ganz sicher. Das ist ja eine Wende um 180 Grad. Viel tiefer kann er nicht sinken. Aber genau das tut er. Er hat schließlich auch nichts mehr zu verlieren.

Der schonungslose Blick auf sich selbst

Anerkennung, gesellschaftlicher Status, Geld - ist alles schon weg. Es ist der Mut der Verzweiflung, der ihn nach Hause treibt. Aber er entwickelt noch einen anderen Mut: Das ist der Mut zu sich selbst. Der schonungslose Blick auf sich selbst: „So also bin ich geworden. So tief bin ich gesunken. Bei den Schweinen bin ich gelandet.“ Er macht sich nichts mehr vor. Und bekennt sich zu dem Mist, den er gebaut hat.

Er musste erst ganz unten ankommen

Was er durchleidet, scheint ein Menschheitsgesetz zu sein. Die meisten Menschen, die sich aus schwierigen Situationen herausgekämpft haben, sagen über ihren Weg: „Erst musste ich „ganz unten“ ankommen, bevor ich mir Hilfe gesucht habe.“ Ganz unten ankommen und sich das eingestehen, das kostet eine Menge Mut. Und genau das will Jesus seinen Zuhörern und Zuhörerinnen mit dieser Geschichte zeigen: „Urteilt nicht über andere Menschen. Ihr wisst gar nicht, was die hinter sich haben.“

Musik 3: Darius Milhaud La Maousinglade (CD: Domus-Quintett)

Mutige Umkehr und großherziges Verzeihen

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist die Geschichte einer mutigen Umkehr und der Bitte um Vergebung, und es ist eine Geschichte von Großherzigkeit und vom Verzeihen. So geht sie weiter:

Der Sohn brach auf und ging zu seinem Vater.Der Vater sah ihn schon von Weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Da sagte der Sohn zu ihm: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein. Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt einen Ring an seine Hand und gebt ihm Sandalen an die Füße. Bringt das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein. Denn dieser, mein Sohn, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie begannen, ein Fest zu feiern. (Lk 15, 20-24) 

Du bist willkommen

Wer hätte das gedacht? Wer hätte sich träumen lassen, dass die Heimkehr des missratenen Sohnes eine solche Wendung nimmt? Das ist ja fast märchenhaft. Der abgerissene Heimkehrer wird wie ein Ehrengast beschenkt - mit neuem Gewand, Ring und Schuhen. Der Vater tut alles, um seinem Sohn zu zeigen: Ich freue mich so! Du bist willkommen!

Kein Aufrechnen – nur Liebe

Und nun geht in der Erzählung der Blick ganz auf den Vater. Wir hören nichts davon, wie der heimgekommene Sohn reagiert. Wir hören auch nichts von der Mutter, die mit Sicherheit schwere Jahre voller Sorge um ihr missratenes Kind hinter sich hat und sich vielleicht mindestens genauso über die Rückkehr des Sohnes gefreut hat. Wir hören erst mal nur die erstaunliche Reaktion dieses Vaters. Seine väterliche Liebe ist mindestens so beachtlich wie der Mut des Sohnes. Wo gibt es denn so etwas: Keinen Ärger, kein Streit, kein Aufrechnen? Nur Liebe.

Zu Gott können wir jederzeit umkehren

An der Stelle ist wichtig: Hier spricht Jesus von Gott. Nicht von Menschen. Bei Gott ist es so, dass wir jederzeit umkehren können und uns nichts erwartet außer Liebe und Verstehen und Vergebung. Egal, was wir veranstaltet haben. Sie zeigt uns, wie groß Gott ist und wie barmherzig.

Vergeben können gelingt uns selten im Handumdrehen

Es gibt auch Menschen, die sehr großherzig sind – aber ich bin ganz ehrlich: Ich wüsste nicht, wie ich als Mutter in einer ähnlichen Situation reagieren würde. Ob ich so schnell so viel Vergebungskraft aufbringen könnte. Vermutlich würde ich viel mehr Zeit brauchen. Wäre bei aller freudigen Überraschung erst mal völlig durcheinander, wie denn nun das alles wieder gut werden soll. Würde mich an meine Wut und Enttäuschung erinnern. An all die Katastrophen, die durch diesen Menschen entstanden sind. Und vermutlich bräuchte ich eine Menge Gespräche, damit sich das alles aufklärt. Ich würde mir viel Mühe geben, aber ich würde Zeit dafür brauchen. Denn Vergeben können gelingt selten im Handumdrehen. Wenn die zugrundeliegende verletzende Handlung sehr groß war, kann es sein, dass es gar nicht gelingt, auf jeden Fall wird es mühsam. Vergeben können ist ein hochkomplexer Vorgang.

Vergeben ist ein komplexer Vorgang, der auch Jahre dauern kann

Ja, Vergeben können ist wirklich sehr wichtig. Weil ein Mensch sich damit von der Last befreien kann, die in dem Zwist, im Nachtragen liegt. Aber es wird eben auch häufig falsch verstanden. Vergeben bedeutet nicht „Schwamm drüber“ und alles vergessen. Vergeben bedeutet wirklich von ganzem Herzen die Last loswerden und sich nicht mehr mit der Verletzung beschäftigen wollen. Und zwar um seiner selbst willen. Denn wer nicht vergibt, kettet sich an diese Erlebnisse, an seine Wut und Kränkung. Nicht-Vergeben wird auf Dauer eine Last. Sich von der Last des Nicht-Vergebenkönnens zu befreien, braucht meistens einen längeren inneren Weg. Manchmal dauert es vielleicht sogar Jahre. Je nachdem, wie groß die Verletzung ist. Und manchmal gelingt es auch nur teilweise.

Zu wissen, wir dürfen mit allem zu Gott kommen

Deshalb ist wichtig: Der barmherzige Vater in dieser Geschichte ist Gott. Bei Gott ist die Vergebung vollkommen und groß. So geht Gott mit den Menschen um. Jesus sagt: Du darfst mit allem zu Gott kommen. Und wenn es noch so viel Mist war. Bei Gott bist du immer willkommen. Er wird sich freuen. Und er wird dir nichts nachtragen. Das zu glauben und anzunehmen, fällt vielen ganz schön schwer.

Natürlich können wir von dieser Liebe Gottes lernen. Das sollen wir auch. Aber wir dürfen dabei realistisch bleiben, was uns als Menschen möglich ist.

Musik 4: Christian Heinrich Rinck aus: Klaviertrio Es-Dur 2.Satz: Largo (CD: Trio Parnassus Rinck Chamber Music)

Dein Bruder war tot und lebt wieder

Die Geschichte vom verlorenen Sohn und dem barmherzigen Vater hat aber noch eine weitere Sinnspitze. Denn es taucht noch der zweite Sohn auf. Der hat es auch nicht leicht. Und das hört sich dann so an:

Der ältere Sohn war auf dem Feld. Als er heimging und in die Nähe des Hauses kam, hörte er Musik und Tanz. …Ein Knecht erzählte ihm, was passiert ist….Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redet ihm gut zu. Doch er erwiderte seinem Vater:…so viele Jahre diene ich dir und nie habe ich dein Gebot übertreten; mir aber hast du nie einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet. Der Vater antwortete ihm: Mein Kind, du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber man muss doch ein Fest feiern und sich freuen; denn dieser, dein Bruder, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. (Lk 15, 25-32)

Der Neid, die Kränkung des immer braven Bruders ist verständlich

Hand aufs Herz, wer kann diesen älteren Bruder nicht verstehen? Er ist neidisch. Na klar, nach der Vorgeschichte. Da hat er immer alles für den Betrieb getan, und nun das! Mastkalb, Ring und Festgewand für den Versager – das ist einfach gemein. Ich kann verstehen, dass er völlig fassungslos fragt: „Und ich? Was kriege ich?“ Dass er gekränkt ist und beleidigt. Weil er immer anständig war und die Arbeit auf dem Hof gemacht hat.

Vergebung ohne Strafpredigt und Bedingungen

Aber auch diesem Sohn geht der Vater entgegen. Auch dieser Sohn braucht erlösende Worte, eine Umarmung, gute Worte. Und eine überraschende Zusage. Weil er all die Jahre offensichtlich gar nicht bemerkt hat, wie sehr er vom Vater geschätzt worden ist. Weil er doch all die Jahre mit ihm zusammenarbeiten und leben konnte. Er musste keine Schweine hüten und sich schämen. Nein, er war immer der angesehene Sohn des Betriebschefs, und durfte sich in dessen Anerkennung sonnen. Aber jetzt braucht auch er Vergebung für sein selbstgerechtes Auftreten, für die Bitterkeit, mit der er über seinen Bruder spricht, für die heftigen Neidgefühle. Und genau wie seinem Bruder wird auch ihm vergeben, ohne Strafpredigt und ohne große Bedingungen.

Kein Tadel, keine Strafe, sondern Liebe

„Seht ihr“, sagt Jesus sinngemäß zu den Umstehenden, die seinen Umgang mit Sündern skandalös finden. „Seht, so ist Gott. Ob ihr abgerissen und verdorben zu ihm kommt, oder selbstgerecht und neidisch – bei Gott ist kein Tadel und keine Strafe dafür zu befürchten. Er liebt. Punkt.“

Gottes bedingungslose Liebe lässt mich heilen und wachsen

Diese Geschichte vom verlorenen Sohn und barmherzigen Vater: Für mich hat sie ein wunderbares Fazit: Gott liebt ohne Wenn und Aber. Und wenn ich das an mich heranlasse, dann kann auch ich in dieser Liebe wachsen und immer größer werden und immer heiler.

Musik 5: Andrea Gabrieli  Laudate Dominum omnes gentes (CD: ensemble officium Music at San Marco)

 

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