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Den Blick weg wagen
Bild: Pixabay/DanaTentis

Den Blick weg wagen

Tina Oehm-Ludwig
Ein Beitrag von Tina Oehm-Ludwig, Evangelische Pfarrerin, Versöhnungskirche-Matthäuskirche Fulda
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Stellen Sie sich ein Glas vor, das bis an den Rand mit Wasser gefüllt ist. Mit einem solchen Glas habe ich ein Problem. Das Problem besteht nicht darin, das Glas leerzutrinken, sondern es von A nach B zu bringen.

Wie bringe ich ein randvoll gefülltes Glas von A nach B?

Entweder dauert das bei mir unendlich lange, weil ich mich auf dem Weg von A nach B nur zentimeterweise vorwärtsbewege. Oder die Hälfte des Wassers geht daneben. Erfahrene Servicekräfte können hingegen mit mehreren randvoll gefüllten Gläsern mühelos von einem Ort zum anderen gelangen. Ich habe sie gefragt, warum das bei mir nicht funktioniert.

Diese Antwort geben erfahrene Servicekräfte

Sie antworteten mir: "Sie starren auf das Glas mit Wasser! Sie müssen aber ihr Ziel in den Blick nehmen und dann mutig losgehen!" Mit anderen Worten: Mein Problem besteht darin, dass ich den Blick weg nicht wage, den Blick weg vom Glas. Dadurch komme ich entweder nicht von der Stelle oder es geht alles schief.

Den Blick weg wagen – eine Geschichte dazu aus der Bibel

Den Blick weg wagen – in der Bibel gibt es dazu eine Geschichte:

22 Jesus drängte die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe.
23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein.
24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer.
26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.
27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.
29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.
30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich!
31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich.
33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn! (Mt. 14,22-33)

Musik: Von Gott Will Ich Nicht Lassen / Celeste Giglio                                             

Der Jünger Petrus ist der Mutigste von denen, die im Boot sitzen

Der Jünger Petrus ist der Mutigste von denen, die im Boot sitzen: Er wagt sich auf das Wasser. Petrus beeindruckt mich auch sonst immer wieder. Man muss diesen Jünger einfach gern haben. Er ist so menschlich. Man kann ihn so gut verstehen und hin und wieder etwas von sich selbst in ihm wiederentdecken.

Petrus - Ein Mann des Widerspruchs

Vielleicht liegt das daran, dass Petrus ein Mann des Widerspruchs war – nicht in dem Sinn, dass er ständig widersprochen hätte, sondern in dem Sinn, dass das, was er gesagt und getan hat, nicht selten widersprüchlich war. Da legt Petrus in einem Moment ein fulminantes Bekenntnis zu Jesus ab und sagt: „Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ (Mt. 16,16) Und im nächsten Moment versucht er, Jesus davon abzubringen, nach Jerusalem zu gehen und dort seinen göttlichen Auftrag zu erfüllen.

Weitere Beispiele aus dem Leben des Petrus

Da schwört Petrus am Gründonnerstagabend Jesus Treue bis in den Tod. Und kurze Zeit später flieht er zusammen mit den anderen Jüngern Hals über Kopf aus dem Garten Gethsemane. Später kommt Petrus zwar zur Besinnung und fasst sich ein Herz. Er wagt sich sogar bis zum Palast des Hohenpriesters vor – doch nur, um mit dem nächsten Atemzug dreimal zu leugnen, dass er Jesus überhaupt kennt. Und auch nach Ostern ist Petrus noch immer der Alte: Er wird zu einem unermüdlichen Missionar. Auch unter Lebensgefahr verkündigt er die frohe Botschaft von Jesus Christus. Doch wenn es darum geht, die Freiheit des Evangeliums im täglichen Miteinander von Juden und Heiden ganz konkret zu leben, dann hat er Angst vor der eigenen Courage.

Auch auf dem Wasser wandelend zeigt sich der Mann des Widerspruchs

Auch bei seinem wundersamen Gang über das Wassers finden wir ihn wieder: den Mann des Widerspruchs. Die Jünger sitzen verängstigt im Boot. Sie sind erschrocken über den Wind und die Wellen und besonders über jene gespenstische Gestalt, die ihnen auf dem Wasser wandelnd entgegenkommt. Petrus gewinnt als Erster nicht nur die Fassung, sondern auch die Sprache wieder. Beinahe tollkühn ruft er Jesus zu: "Sprich nur ein Wort und ich komme dir entgegen – auf dem Wasser." Die anderen Jünger wollen lieber im Boot bleiben, um wenigsten einigermaßen festen Boden unter den Füßen zu haben. Doch Petrus ist bereit, auf das Wort Jesu hin auch diesen letzten Rest an Boden unter den Füßen aufzugeben. Und als Jesus zu ihm sagt: "Komm!", schwingt er tatsächlich beide Beine über die Bootskante und steht im nächsten Moment auf dem Wasser. Aber dann wird Petrus gewahr, was er da eigentlich getan hat. Er sieht sich um. Er sieht das Wasser unter und die meterhohen Wellen neben sich. Er starrt darauf. Und dann erstarrt er. Er ist mit einem Mal nicht mehr fähig, sich auch nur einen Zentimeter weit zu bewegen.

Das Wunderbare: Petrus wagt den Blick weg von der Gefahr

Doch dann gelingt ihm etwas Wunderbares: Er wagt den Blick weg. Er wagt es, seinen Blick vom Wasser zu lösen. Und genau das ist seine Rettung. In dem Moment, in dem er den Blick weg wagt – weg von dem Wasser unter und den Wellen neben ihm, weg von dem, was ihm Angst macht und ihn bedroht, weg von sich selbst und seinem Unvermögen, auf dem Wasser zu wandeln, in dem Moment ist sein Blick wieder frei. Und zwar frei für den, der ihm auf dem Wasser entgegenkommt.

Nun ist sein Blick frei

Sein Blick ist frei für den, der ihm die rettende Hand schon längst entgegenstreckt. Sein Blick ist frei für Jesus. Petrus ergreift die Hand, die Jesus ihm hinhält, und er wird gerettet. Auch wenn Jesus ihn einen „Kleingläubigen“ nennt und ihn fragt: "Warum hast du gezweifelt? Warum bist du nicht einfach weitergegangen – dein Ziel fest im Blick, mich fest im Blick?" Festzuhalten bleibt: Petrus wagt den Blick weg. Und genau das ist seine Rettung.

Musik: Jesu meine Freude Börner Gitarrenmusik                                                                   

Den Blick weg wagen - das rettet auch Petra

Den Blick weg wagen – so wie Petrus es getan hat, als das Wasser ihn umgeben hat. Weg von dem, worauf er wie gebannt gestarrt hat, weg von dem, was ihn gefangen gehalten hat – das war nicht nur für Petrus die Rettung, sondern auch für Petra. Petras Blick war gefangen von sich selbst, von ihrer ganz persönlichen Situation. Sie starrte nur noch auf das, was sie nicht hatte. Sie konnte keine nennenswerten Erfolge im Beruf vorweisen, sie hatte keine besonderen Gaben und Fähigkeiten, sie besaß weder eine ins Auge springende Schönheit noch große Reichtümer noch einen Partner, mit dem sie das Leben mit seinen Höhen und Tiefen hätte teilen können. Doch dann hat sie den Blick weg gewagt, den Blick weg von ihrem Mangel. Und dieser Blick weg hat Petra gutgetan. Er hat sie gerettet. Denn nun war ihr Blick wieder frei – frei für das, was es gibt: verständnisvolle und hilfsbereite Kollegen, eine große Portion Gesundheit, genug Geld, um sich das eine oder andere leisten zu können, eine Familie, die ihr den Rücken stärkt.

Auch Holger hat den Blick weg geschafft

Auch Holger hat den Blick weg geschafft – den Blick weg von seiner eigenen Meinung, die er vor langer Zeit gefasst und die ihn letztlich ganz gefangen genommen hat. Außer ihr konnte er irgendwann nichts mehr gelten lassen. Der Blick weg von seiner Meinung hat Holger gutgetan. Er hat ihn gerettet. Er hat sein Denken wieder frei und seinen Horizont weit gemacht. Auf einmal hatte er wieder Lust, Neues zu entdecken und dazuzulernen. Holger wurde wieder neugierig – auf die Welt, in der er lebt, und auf die Menschen, die mit ihm in dieser Welt leben.

Und auch Ralf….

Ralfs Blick war gefangen von dem, was er meinte, leisten zu müssen. Er starrte nur noch auf seine Arbeit, die immer mehr und niemals weniger wurde – nicht zuletzt deshalb, weil er sie mit Bravour erledigte. Doch Ralf erschöpfte sich in seiner Arbeit. Er brachte sich bis an die Grenze des Möglichen und eines Tages auch darüber hinaus. Der Blick weg von den eigenen und fremden Ansprüchen hat Ralf gutgetan. Er hat ihn gerettet. Ralf hat wieder mehr Freude am Leben. Er hat mehr Zeit für das Leben.

Und schließlich Monika

Und schließlich Monika. Ihr Blick war gefangen von dem, was war und was unwiderruflich verloren ist. Das machte sie oft traurig. Manchmal war sie auch wütend – wütend darüber, dass ihr das Liebste im Leben genommen wurde. Der Blick weg von der Vergangenheit hat ihr gutgetan. Er hat sie gerettet. Er hat ihren Blick frei gemacht – frei für die Gegenwart, frei für den Augenblick, frei für das Leben – ihr Leben. Ihr einmaliges, unverwechselbares und unwiederholbares Leben.

Der Blick weg braucht Zeit und Übung

Wie Petra, Holger, Ralf und Monika den Blick weg geschafft haben? Ich weiß es nicht genau, aber ich bin mir sicher: Sie haben es nicht von jetzt auf gleich geschafft. Sie haben dafür Zeit gebraucht. Denn der Blick weg braucht Zeit. Er braucht auch Übung. Das Gute ist aber: Man kann ihn üben. Man kann sich selbst darin üben. Man kann den Blick weg lernen. Zu Beginn gelingt er vielleicht nur für einen kurzen Moment – es ist dann nur ein kurzes Wegschauen von dem, was den Blick gefangen hält. Aber Hauptsache: Der Blick weg gelingt. Und wenn er einmal für einen noch so kurzen Moment gelungen ist, dann kann er wieder gelingen. Und dann noch einmal und noch einmal. Und eines Tages gelingt er dann ein wenig länger. Und irgendwann vielleicht sogar auf Dauer.

Musik: Bach: BWV 137 - Lobe Den Herren, Der DeinenStand Sichtbar Gesegnet                                                                                  

Der rettende Blick weg rettet

Petrus hat den Blick weg gewagt – den Blick weg von dem Wasser unter und den meterhohen Wellen neben ihm. Das war seine Rettung. Er hat neuen Halt gefunden. Petra hat neuen Reichtum entdeckt, Holger die Neugier, Ralf die Freude und Monika die Gegenwart, den Augenblick. Ich habe mich gefragt: Was verbindet wohl alle diese "Rettungen" miteinander?

Was bedeutet das Wort „retten“?

Dazu bin ich dem Wort "retten" einmal auf den Grund gegangen, genauer gesagt: auf den Sprachgrund. Laut Duden ist die Herkunft des Wortes zwar unklar, es könnte aber sein, dass das Wort "retten" ursprünglich mit einem Wort verwandt war, das "lockern" bedeutet. Diese Erklärung hat mir gefallen. Und nicht nur das. Diese Erklärung hat mir auch eingeleuchtet. Wer gerettet wird, der wird locker.

Wer gerettet wird, der wird locker

Sie kennen vermutlich alle das unangenehme Gefühl, verspannt zu sein. Kiefer, Nacken, Schultern, Rücken oder alles auf einmal ist fest. Nichts geht mehr – jedenfalls keine normale Bewegung und wenn, dann nur unter Schmerzen. Also lässt man die Bewegung lieber sein und erstarrt. Doch dann fühlt man sich wie gefangen im eigenen Körper. Eine Massage ist dann wirklich die Rettung. Sie ist zunächst vielleicht schmerzhaft, letztlich aber wohltuend.

Wenn nicht nur der Kiefer, der Nacken, die Schultern oder der Rücken verspannt ist, sondern auch noch unsere Gedanken und Gefühle, unser ganzes Verhalten, dann ist das besonders unangenehm. Dann geht erst recht nichts mehr. Was die Massage dann für den Körper ist, das ist der Blick weg für unseren Geist und für unsere Seele. Vielleicht ist auch er zunächst einmal schmerzhaft, aber letztlich ist er wohltuend. Denn er macht uns wieder locker. Er entspannt uns. Und das tut gut. Dafür lohnt es sich, den Blick weg zu wagen. Und wenn er nicht gleich gelingen will, ihn immer wieder zu üben.

Musik:  Bach: Kantate BWV 120 - 6. Choral. Nun Hilf Uns, Herr        

Den Blick weg muss niemand allein wagen

Letztlich muss keiner den Blick weg alleine wagen. Auch Petrus hat das nicht getan. Er hat Jesus zu Hilfe gerufen. "Herr, rette mich!", hat Petrus gesagt. "Herr, rette mich!", hat er in Wind und Wetter hineingeschrien. Drei Worte – mehr nicht. Mehr war Petrus in diesem Moment nicht möglich. Auch wir können Jesus zu Hilfe rufen.

Wir können um Hilfe bitten

Manchmal ist uns ebenfalls nur ein kurzes Stoßgebet möglich: "Herr, rette mich!". Manchmal müssen es aber vielleicht auch mehr Worte sein – Worte, die all das zum Ausdruck bringen, was unseren Blick gefangen hält, was uns starren und erstarren lässt. Manchmal sind dies unsere eigenen Worte und manchmal solche, die ein anderer Mensch gefunden hat. Vielleicht Worte wie die folgenden von Dietrich Bonhoeffer:

Ein Gebet von Dietrich Bonhoeffer

Gott, zu dir rufe ich am frühen Morgen.
Hilf mir beten und meine Gedanken sammeln.
Ich kann es nicht allein.
In mir ist es finster, aber bei dir ist Licht.
Ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht.
Ich bin kleinmütig, aber bei dir ist Hilfe.
Ich bin unruhig, aber bei dir ist Frieden.
In mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist Geduld.
Ich verstehe deine Wege nicht,
aber du weißt den rechten Weg für mich.
Vater im Himmel,
Lob und Dank sei dir für die Ruhe der Nacht,
Lob und Dank sei dir für den neuen Tag,
Lob und Dank sei dir für alle deine Güte und Treue in meinem vergangenen Leben.
Du hast mir viel Gutes erwiesen,
'lass mich nun auch das Schwere aus deiner Hand hinnehmen.
Du wirst mir nicht mehr auferlegen, als ich tragen kann.
Du lässt deinen Kindern alle Dinge zum Besten dienen.

Musik: BWV29/h: Choral. Sei Lob und Preis mit Ehren    

* Die hr2 Morgenfeier ist von Tina Oehm-Ludwig geschrieben, aber ausnahmsweise von Claudia Rudolff gelesen.                                                                    

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