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Worte, die aufrichten
Bild: mohamed hassan/Pixabay

Worte, die aufrichten

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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„Ich fühle mich wie erschlagen. Als hätte mich jemand zerbrochen“, so sagt die Frau im Krankenhaus. Ich besuche sie als Krankenhauspfarrerin in ihrem Zimmer. Sie hat gerade eine schwere Diagnose erfahren und hat damit zu kämpfen. Außerdem, so erzählt sie, ist ihr Mann im letzten Jahr gestorben. Wer soll sie nun unterstützen?

Wer soll sie nun unterstützen?

Wer wartet zuhause auf sie oder hält ihre Hand? Die Kinder sind weit weg. Sie hat große Sorgen. Sie spürt keine Kraft mehrt in sich. „So als wäre gar keine Energie mehr übrig. Zermürbt. Müde. Kaputt.“

„Ich kann nicht mehr.“ Diesen Satz habe ich in den letzten zwei Jahren öfter als sonst gehört. Es scheint mir so, als hätte sich bei vielen Menschen ein Bodensatz angesammelt an Schmerz und Erschöpfung.

Die Belastungsgrenze hat sich verschoben

Die Belastungsgrenze hat sich verschoben. Früher hatten sie sich ein dickes Fell zugelegt, an dem manches abprallen konnte. Negative Erlebnisse wurden erstmal zur Seite geschoben, bis genug Kraft da war, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Das ist ein gesunder Umgang mit Schicksalsschlägen. Aber ich erlebe, wie dieses dicke Fell bei vielen schütter wird und Löcher bekommt. Eine kleine zusätzliche Belastung, und es reißt. Sie können nicht mehr. Sehr viel schneller geraten sie an den Punkt, an dem es reicht. An dem sie sich ausgebrannt fühlen.

Im Krankenhaus erlebe ich, wie Menschen durch eine körperliche Krankheit aus der Bahn geworfen werden. Aber sehr oft ist auch die Seele angegriffen. Das lässt sich nicht trennen.

Plötzlich rasten Menschen aus

Wer zum Beispiel in den letzten knapp zwei Jahren mit seinen Liebsten auf engem Raum eingesperrt war, gerät an seine Grenzen. Home Office und Kinderbetreuung passen oft nicht gut zusammen. Natürlich gibt es auch humorvolle Videos von Machtmenschen in Schlips und Kragen, die sich zuhause mit ihren Kleinkindern im Hintergrund präsentieren. Plötzlich ganz menschlich.

Aber oft passiert auch das andere: Ganz normalen Menschen reißt die Zündschnur, und sie schlagen zu. Sie werden zu Tätern und Täterinnen. Darüber sind manche selbst erschrocken. Wahrscheinlich können wir als Gesellschaft erst nach Jahren ermessen, wieviel Gewalt Kinder in dieser Zeit erlebt haben.

Die merkwürdige Zeit der Corona-Pandemie hinterlässt ihre Spuren: „Ich fühle mich erschlagen. So als hätte mich jemand zerbrochen.“

Musik: Isang Yun, Monolog für Fagott 

Auch ich fühle mich ausgepowert

„Ich fühle mich wie erschlagen. So als hätte mich jemand zerbrochen.“ Ich muss zugeben: Das fühlen nicht nur die anderen. Ich selbst spüre, wie diese merkwürdige Zeit der Pandemie auch an mir zerrt. Viel schneller als sonst spüre ich: Ich bin ausgepowert.

Immer wieder werden Pläne, die wir für die Gottesdienste in der Kirchengemeinde gemacht haben, über den Haufen geworfen. Dürfen wir singen? Können wir es wagen, uns in größeren Gruppen zu treffen? Da waren sich viele nicht einig, als wir die Weihnachtsgottesdienste vorbereitet haben. Das erschöpft.

Immer noch werden Veranstaltungen abgesagt

Immer wieder werden Kulturveranstaltungen abgesagt - ich wollte am dritten Advent das Weihnachtsoratorium in der Thomaskirche in Leipzig hören! Ein Abend, auf den ich mich seit Wochen und Monaten gefreut hatte. Abgesagt. Eine bittere Enttäuschung. Das geht nicht spurlos an mir vorbei. Es zehrt aus. Auch wenn mein Kopf weiß, es geht nicht anders, es muss so sein – mein Herz sehnt sich nach Schönem wie Musik, bei dem ich auftanken kann.

Wie lange wird es noch gutgehen?

Wie mag es da denen gehen, die solche Erlebnisse nicht nur vermissen, sondern davon leben? Den Künstlern und Künstlerinnen selbst. Oder denen, die solche Veranstaltungen organisieren. Ihnen bricht die Grundlage ihres Lebens weg. Sie fühlen sich erschlagen, zerbrochen. Und das passiert ja nicht zum ersten Mal.

Schon wieder... so habe ich selbst gedacht, als die Zahlen im Winter wieder heftig anstiegen.   
Wie lange wird das noch gutgehen?

Das Ausmaß der Proteste kann erschrecken

Manchmal geht es tatsächlich nicht gut. Einige reagieren auf die neuesten Einschränkungen ohne jedes Verständnis. Klar, eine andere Meinung und Protest müssen erlaubt sein. Aber mich erschreckt das Ausmaß mancher Proteste.

Wie hart und aggressiv sie geführt werden. Ganz zu schweigen von rechtsradikalen und antisemitischen Verbindungen bei manchen sogenannten Querdenkern. Sogar einen Mord hat es gegeben im Anschluss an eine solche Demo, als der Kassierer einer Tankstelle schlicht auf den einfachen Regeln bestand. Da ist das Maß weit überschritten. Das geht nicht. Punkt.

Die Einschläge kommen näher

Ich erlebe, wie die Einschläge näherkommen. Immer öfter kenne ich Menschen, die erkranken oder sogar sterben. Nicht nur im Krankenhaus, in dem ich als Pfarrerin arbeite, sondern genauso in meiner Kirchengemeinde und im Freundeskreis. Ich kann es nicht distanziert von mir fernhalten. Es tut weh. Das dicke Fell bekommt Risse.

Gerade deshalb überlege ich, wie ich mich selbst davor schütze, aggressiv zu reagieren. Ich kenne ja bei mir selbst das Gefühl, ausgebrannt und am Ende zu sein. Wie kann ich anders damit umgehen, nämlich gut und produktiv?  

Ein hilfreicher Bibelvers

Dann geht mein Blick zu einem Bibelvers, der genau in diese Gefühlslage hineinpasst. Er hängt schon seit Jahren an meiner Küchenwand und hat mich in verschiedensten Lagen aus dem Sumpf gezogen. Heute wird über ihn in den evangelischen Kirchen gepredigt. Er stammt vom Propheten Jesaja aus der Hebräischen Bibel: Das geknickte Rohr wird Gott nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen (Jes 42,3).

Das ist wie Balsam für meine Seele.

Musik: J.S. Bach, Sinfonia F-Dur BWV 156/1

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. So verspricht uns der Prophet Jesaja.

Das sind wunderschöne tröstliche Bilder.

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen

Wenn ein Schilfrohr bricht, dann ist nicht mehr viel mit ihm anzufangen. Rohr wird schon immer dafür benutzt, Dinge wie Körbe zu flechten. Dabei geht der Korbmacher vorsichtig mit den Rohren um, denn wenn eines geknickt ist, dann ist es zu nichts mehr nütze. Es ist nicht mehr elastisch genug, und er wirft es weg. Aus und vorbei.

Und nun sagt der Prophet Jesaja: Bei Gott wird ein Mensch nicht nach dem beurteilt, was er kann und leistet. Selbst ein geknicktes Rohr, das sonst einfach weggeworfen wird, kann Gott gebrauchen. Es darf sein – so unnütz und geknickt, wie es ist. Gott hat andere Maßstäbe, wenn er Menschen betrachtet, als ihre Funktionalität.

Den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen

Das zweite Bild:
Licht wird in biblischen Zeiten mit Öllampen erzeugt. Das Öl wird in einem Gefäß aus Ton aufbewahrt. Der Docht zieht das Öl aus diesem Gefäß heraus, und an seiner Spitze brennt eine helle Flamme. Wenn nun das Öl zur Neige geht, dann kann der Docht nur noch glimmen. Er wird ausgelöscht oder muss sogar abgeschnitten werden. Das Licht erlischt.

Gott hat Geduld mit uns

Ganz anders hier bei Jesaja: Den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Gott hat Geduld mit den Menschen. Wo nur noch eine winzige Flamme glimmt und bald alles in Dunkelheit taucht, da bemüht sich Gott. Ich stelle ihn mir vor wie jemanden, der ein Lagerfeuer anzünden will. Er kniet sich hin und pustet ganz vorsichtig – um das winzige Glimmen nicht auszupusten, sondern um es anzufachen, bis es wieder zur lodernden Flamme wird.    

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

Für Gott ist jede und jeder wertvoll

Gott kann das, was sonst nichts gilt, trotzdem nutzen. Bei ihm ist niemand wertlos oder unbrauchbar. Auch nicht diejenigen, die sich ausgebrannt und geknickt fühlen. Auch sie dürfen sein.

Eigentlich stammen diese Bilder aus der Gerichtssprache. Das Rohr zerbrechen – den Docht auslöschen – das bedeutet, einen Menschen zu verurteilen. Ihm die Strafe zukommen zu lassen, die er verdient. Wir haben einen ähnlichen Ausdruck: den Stab über jemanden brechen.

Der Gottesknecht handelt in Gottes Namen

Für Jesaja hat Gott sich eine Person ausgesucht, die in seinem Namen das Rohr aufrichtet, den Docht wieder zum Brennen bringt. Er wird Gottesknecht genannt. Der Gottesknecht wird am Ende der Zeiten Gottes Friedenreich bringen. Da soll es dann gerade nicht darum gehen, das Recht durchzusetzen und den Stab zu brechen, sondern im Gegenteil: Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Der Gottesknecht ist ein Richter, der auf sein Recht verzichtet. Bei ihm haben alle diejenigen Platz, die am Ende ihrer Kräfte sind.

Musik: Josquin Desprez, Missa Pange lingua, Sanctus

Jesus Christus - als Gottesknecht

Als Jesus Christus auftritt, sehen die ersten Christen in ihm den Gottesknecht, wie Jesaja ihn verheißen hat. Er erfüllt dessen Verheißungen: Er wendet sich gerade denen zu, die am Ende sind. Die nichts gelten. Er heilt Menschen und hält sich dabei nicht immer an die Buchstaben der religiösen Vorschriften. Der Mensch ist wichtiger als das Gesetz, zum Beispiel das Sabbatgebot – das ist seine Überzeugung. Das macht einige zornig.

Jesus geht es auch um den Menschen

Aber er argumentiert mit demselben Gedankengang wie Jesaja: Bei Gott geht es nicht um Recht und Ordnung. Es geht ihm nicht darum, auf seinem Recht zu beharren, sondern gerade auf dieses Recht zu verzichten. Es geht ihm um die Menschen. Jesus zitiert Jesaja sogar: Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

Die verwundeten Menschen, die geknickten Gestalten sind Jesus wichtiger als ein religiöses Gesetz.

Jesus und die gekrümmte Frau

Einmal (Lukas 13,10-17) lehrt er am Sabbat in einer Synagoge, da kommt eine Frau herein. Sie leidet seit achtzehn Jahren, also seit Menschengedenken an einer verkrümmten Wirbelsäule. Der Rücken tut ihr weh und sticht bei jeder Bewegung. Sie kann sich nicht aufrichten, ihr Gesichtsfeld ist eingeschränkt auf das, was unmittelbar vor ihren Augen liegt. Ihr Bewegungsradius ist auf wenige Meter beschränkt. Sie ist in sich selbst verkrümmt. Die Schmerzen nehmen überhand und machen sie ganz mürbe. Sie kann nicht mehr. Dass sie es überhaupt in die Synagoge schafft, grenzt an ein Wunder. Aber ihr ist klar: Wenn dieser Jesus kommt, von dem sie viel gehört hat, dann ist er ihre Chance. Dann muss sie dabei sein. Sie schleppt sich aus dem Haus und beißt fest auf die Zähne. Sie versucht, die bohrenden Schmerzen zu unterdrücken und nur ans Ziel zu denken. Dabei hatte sie eigentlich ihren Kampfgeist schon längst verloren. Äußerlich und innerlich ist sie geknickt. Aber nun kehrt er zurück.

Jesus heilt sie

Endlich kommt sie an der Synagoge an. Jesus ist schon dort. Er sieht sie an, ruft sie zu sich und legt die Hände auf sie. Das ändert alles. Der Rücken tut nicht mehr weh, und sie kann sich aufrichten. Ihr Kopf hebt sich, der Blick wird wieder frei und weit. Sie kann sogar Jesus anschauen. Sie ist geheilt. Die Schmerzen sind weg. Endlich.

Bei Jesus ist diese Frau an der richtigen Adresse

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen.

Natürlich gibt es ein Nachspiel, ob das am Sabbat erlaubt ist. Aber für Jesus steht das überhaupt nicht in Frage: Die verkrümmte Frau muss aufgerichtet werden.

Jesus hat ein ganz besonderes Faible für sie. Wer sich zerschlagen fühlt und zerbrochen, ist bei ihm an der richtigen Adresse. Der Philosoph Blaise Pascal hat es einmal so ausgedrückt: „Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen.“

Musik: J.S. Bach, Violinkonzert a-moll BWV, 2. Satz: Andante 

Jesus richtet die Menschen auf

Jesus richtet die Menschen auf, die sich geschlagen und zerbrochen fühlen. Damit steht er in guter Tradition mit dem Propheten Jesaja. Er gibt ihnen neue Kraft und neuen Widerstandsgeist.

Wir können Jesus nicht unmittelbar begegnen, aber wir können zu ihm beten. Ihn bitten, das Vertrauen nicht aufzugeben. Ihn bitten uns Kraft zu schenken.

Ihn bitten, uns Engel zu schicken, die uns zur Seite stehen. So richtet er uns auf.

Einen Funken an Lebenskraft bewahren

Das möchte ich lernen. Wenn ich mich in diesen schwierigen Zeiten ausgepowert fühle und am Ende bin, dann will ich an die verkrümmte Frau denken und mich von ihr anstecken lassen. Sie hat nicht aufgegeben, obwohl ihre Leidenszeit ganze achtzehn Jahre dauerte. Fast ein Menschenleben. Trotzdem war da noch ein kleiner Funke übrig, den Jesus wieder anfachen konnte. Ein Funke an Lebenskraft, ein Funke an Hoffnung. Den will ich auch in mir bewahren. Ich will nicht aufgeben.

Menschen, die diesen Funken auch brauchen

Mir fallen genug Menschen ein, die diesen Funken auch brauchen. Die ältere Frau im Krankenhaus, die mit ihrer Diagnose zu kämpfen hat und sich allein dabei fühlt. Die Kirchengemeinde, die immer wieder neu ihre Gottesdienste umplanen muss. Die Künstlerinnen und Künstler, denen die Lebensgrundlage wegbricht. Die Menschen, die zu aggressiv reagieren, falls sie noch erreichbar sind. Ich möchte ihnen von Jesaja und Jesus erzählen und für sie beten.

Ich werde jedenfalls diesen Satz an meiner Küchenwand hängen lassen, um mich wieder daran zu erinnern. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

Musik Antonio Vivaldi, Concerto C-Dur für Fagott und Streicher RV 474, 3. Satz: Allegro

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