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Was uns jetzt zusammenhält: Gedenken an die Novemberpogrome
Fundus-Medien/Volker Rahn

Was uns jetzt zusammenhält: Gedenken an die Novemberpogrome

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt
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Es waren die Nachbarn, die 1938 verschleppt und ermordet wurden, weil sie Juden waren. Die Synagogen brannten nebenan. Autor Martin Vorländer zeigt, was das Christentum zum Grauen vor 84 Jahren beigetragen hat und warum die Erinnerung heute den Zusammenhalt stärkt.- Infos zum Foto finden Sie am Ende des Textes. 

Kein normaler Tag

Der 6. November 1938 war ein Sonntag. Der Himmel über Deutschland war bedeckt. Hier und da gab es etwas Regen. Die Temperatur lag zwischen zehn und zwölf Grad. Ein ganz normaler Sonntag Anfang November. Viele jüdische Familien ahnten nicht, was ihnen bevorstand. Schon einen Tag später, am Montag, gab es die ersten Attacken von Männern der SA und der SS gegen Wohnungen und Geschäfte von Jüdinnen und Juden. Am Dienstag zündeten die Nazis und ihre Handlanger die Synagoge in Bad Hersfeld an.  

Der 9. November, Tag der Gewalt gegen jüdische Nachbarinnen und Nachbarn

Die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden brach dann hemmungslos in der Nacht vom 9. auf den 10. November aus. In Frankfurt hörte man ab dem frühen Donnerstagmorgen unaufhörlich die Feuerwehr fahren, weil die Synagogen brannten. Die Feuerwehrleute löschten aber nicht. Sie sorgten lediglich dafür, dass das Feuer nicht auf die Nachbargebäude übersprang.

Synagogen wurden angezündet, Geschäfte und Wohnungen zerstört

Schaufensterscheiben waren eingeworfen. Glasscherben, Kleider, Wäsche, Schuhe, Schreibmaschinen, Radios lagen auf der Straße. Vorwand für die Novemberpogrome war, dass der 17-jährige Herschel Grynszpan in Paris auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath geschossen hatte. Vom Rath starb ein paar Tage nach dem Attentat. Grynszpan kam aus einer jüdischen Familie. Er war verzweifelt darüber, dass das NS-Regime seine Angehörigen nach Polen abgeschoben hatte.

Ein Vorwand für Gewalt und Mord

Hitler, Goebbels und ihren Parteisoldaten kam dieses Attentat gerade recht. Sie ergriffen es als Gelegenheit, in aller Öffentlichkeit, für alle sichtbar brutal gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland vorzugehen. In meiner Stadt Frankfurt verhafteten sie jüdische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren. Ich kann mir das kaum vorstellen: Es klingelt an der Haustür. Zwei Uniformierte stehen davor und nehmen einen einfach mit, ohne Grund, ohne dass man irgendetwas getan hat, nur, weil man Jude ist. In Frankfurt haben die Nazis auf diese Weise über 3100 Männer aus ihren Wohnungen geholt. Sie haben sie erst in die Festhalle an der Messe und dann zum Frankfurter Südbahnhof gekarrt.

Der Frankfurter Südbahnhof war ein Ort der Verschleppung

Ich wohne in der Nähe vom Frankfurter Südbahnhof. Von dort aus nehme ich oft die U-Bahn oder fahre mit der S-Bahn – an der Stelle, an der damals die Nazis jüdische Frankfurter in die Züge geprügelt und in die Konzentrationslager nach Dachau und Buchenwald transportiert haben. Heute erinnert eine Gedenktafel neben dem Eingang zum Südbahnhof an die Männer, die damals ins KZ deportiert wurden, und an die Opfer der Novemberpogrome von 1938.

Warum Gedenken?

Was bringt Gedenken? Oft führt das Gedenken zu der Aufforderung: Wehret den Anfängen! Für mich als Christ ist schrecklich: Ein Anfang für den Hass gegen Jüdinnen und Juden liegt im Christentum und im Neuen Testament.

Musik

Auch das Christentum hat eine Geschichte des Hasses gegen Jüdinnen und Juden

Die Geschichte des Hasses gegen Jüdinnen und Juden ist lang. Einer ihrer Anfänge liegt im Christentum. Ausgerechnet mein christlicher Glaube, in dem es doch um die Liebe Gottes geht, hat dazu beigetragen, dass Christen auf Juden herabgeschaut haben, sie verachtet, diffamiert und sogar verfolgt haben. Wie kommt das? Jesus war Jude. Und auch seine Jüngerinnen und Jünger, seine Mutter Maria, der Apostel Paulus waren keine Christen. Sie waren alle Jüdinnen und Juden. Die Jesus-Bewegung war eine Gruppe innerhalb des Judentums. Die Anhängerinnen und Anhänger von Jesus gingen genauso am Sabbat in die Synagoge wie ihre Glaubensgenossen auch.

Die ersten Christen sahen in Jesus den Messias Israels. Viele Jüdinnen und Juden nicht.

Der Unterschied war: Sie glaubten, dass Jesus der Messias ist, den Gott verheißen hat. Sie waren erfüllt von der Hoffnung: Mit Jesus hat sich das erfüllt, was in den Heiligen Schriften Israels steht. Gott erlöst sein Volk aus allem Elend. Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit hat begonnen. Und mehr noch: Nach dem Tod am Kreuz hat Gott Jesus vom Tod auferweckt. Der Weg zum ewigen Leben steht für alle offen, die an Jesus glauben. Darum hieß die Jesus-Gruppe "der Weg" oder "der neue Weg" (Apostelgeschichte 9,2). Nur: Nicht alle in Israel schlossen sich diesem Weg an. Der Glaube an Jesus als dem Messias spaltete.

Aus Glaubens-Unterschieden wurde Feindschaft

Aus diesem Unterschied im Glauben wurde eine Trennung und mehr und mehr eine Feindschaft. Aus einer Splittergruppe innerhalb des Judentums wurde eine neue Religion, das Christentum. Der Glaube an Jesus Christus beschränkte sich nicht mehr auf Israel, sondern verbreitete sich in aller Welt. 

Schon im Neuen Testament antijüdische Reflexe

Die Konflikte zwischen Christentum und Judentum haben ihren Niederschlag im Neuen Testament gefunden. In einer entscheidenden Szene in der Passionsgeschichte präsentiert der römische Statthalter Pontius Pilatus den verhafteten Jesus vor einer Menschenmenge in Jerusalem. Pilatus fragt die Leute: "Was soll ich mit diesem Jesus machen, von dem gesagt wird, er sei der Messias?" Sie schreien: "Lass ihn kreuzigen!" Pilatus zögert. Aber das Getümmel wird größer, das Geschrei immer lauter: "Lass ihn kreuzigen!" Wörtlich steht im Evangelium: "Alles Volk" sprach: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Matthäus 27,25)

Ein Bibel-Vers als Nährboden von Hass und Gewalt

Dieser Vers hatte schreckliche Folgen. Christen haben damit immer wieder begründet, "die" Juden, also alle, hätten Jesus ans Kreuz gebracht. Nicht nur die Zeitgenossen von Jesus, sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder. Sie seien "Gottesmörder". Diese Überzeugung von vielen Christen war einer der Nährböden für die massenmörderische Hetze der Nazis, "die Juden" seien an allem schuld und müssten weg.

Jesus war und blieb Jude

Das Christentum hat schnell und gern vergessen, dass Jesus Jude war. An seinem Kreuz stand: "Jesus von Nazareth, König der Juden". Das Christentum wurzelt im jüdischen Vertrauen auf Gott. Den Glauben, dass Gott die Welt geschaffen hat und liebt, die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, das Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" – das alles hat das Christentum vom Judentum. Darum steht im Neuen Testament als Erinnerung für jede Christin, für jeden Christen wörtlich: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich." (Römer 11, 18)

Musik

Wogegen sich jede und jeder wehren muss

Das Gedenken an die Novemberpogrome der Nazis 1938 führt oft zu der Aufforderung: "Nie wieder! Wehret den Anfängen!" Es ist schwer, den Anfängen zu wehren, gerade weil es längst keine Anfänge mehr sind. Denn nach wie vor müssen Synagogen in Deutschland bewacht werden aus Angst vor Anschlägen. Nach wie vor müssen Jüdinnen und Juden befürchten, auf der Straße angepöbelt oder handgreiflich attackiert zu werden. Was sind die Anfänge, denen ich wehren muss?

Wir - und die da, dieses Denken kann böse machen

Es beginnt mit dem Denken, das zwischen "Wir" und "Die da" unterscheidet. Das untergräbt den Zusammenhalt und macht es leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Dann passiert es schnell, dass "die da" angeblich an allem schuld seien – an Corona, am Krieg, an jeder x-beliebigen Krise, für die man einen Sündenbock braucht. Wenn die Probleme kompliziert sind und noch dazu viel mit dem eigenen Verhalten und Lebensstil zu tun haben, dann ist es leichter, wenn man die Schuld auf andere abschieben kann.

Was hätte ich getan?

Damals 1938 bei den Novemberpogromen haben die meisten in Deutschland nichts gesagt, nichts getan, um Jüdinnen und Juden zu schützen. Einige haben zugeschaut und gegafft. Andere haben mit beleidigt, mit geschlagen und getreten. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte. Hätte ich aus Angst geschwiegen? Weggeschaut? Ich weiß nicht, ob ich den Mut zu Widerspruch und Widerstand gehabt hätte.

Die Würde steht an erster Stelle

Ich bin überzeugt: Gedenken und zusammen daran erinnern, welche Gewalt Menschen damals anderen Menschen in ihrer Mitte angetan haben, das stärkt, was uns heute zusammenhält. Nämlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar. So steht es im Grundgesetz, Artikel 1, Satz 1. Die Würde des Menschen steht an erster Stelle – ohne Abstriche, ohne Einschränkung. Die Würde jedes einzelnen Menschen.

Nächstenliebe steht im Alten Testament

Was uns zusammenhält, dazu gehört für mich das biblische Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Das wird oft die christliche Nächstenliebe genannt. Es steht aber im Alten Testament. Es ist also die jüdische Nächstenliebe, an die sich der Jude Jesus gehalten und denen ans Herz gelegt hat, die ihm nachfolgen. 

Orte in Hessen zum Gedenken 

Am Südbahnhof in Frankfurt erinnert eine Bronzetafel an die Opfer der Novemberpogrome. Dort findet am Mittwochabend, 9. November, eine Gedenkandacht statt. So wie an vielen anderen Orten in Hessen. Ich bin dabei.  

 

 

 

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