Stoffreste meines Lebens
Foto: Bilderteppich vom Frauenkollektiv Mujeres libres, ríos libres, Chile
Es ist herbstlich geworden. Ich schaue in den Kleiderschrank und suche meine langärmligen T-Shirts. Da, das blaue mit dem Muster, das lieb ich besonders. Ich will es gerade anziehen, da sehe ich ein paar Löcher am Ellenbogen, zu groß zum Reparieren. Schade drum. Es war wirklich eins meiner Lieblingsstücke. Ich sortiere es aus und lege es in einen Beutel, in dem ich Stoffreste sammle.
Stoffreste von Lieblingsstücken
Der Beutel ist schon ziemlich voll. Ich schütte ihn aus und lege alle Stoffreste vor mich hin: einzelne Socken, Ärmel von abgestoßenen Hemden, abgeschnittene Hosenbeine. An manche Stücke kann ich mich richtig gut erinnern. Das gestreifte Sommerkleid meiner Tochter, das hat sie heiß und innig geliebt. Vor mir liegt Bettwäsche von früher, deren Muster aus der Mode gekommen ist, und eine Cordhose, die ich als Studentin oft anhatte. Ein ganzer Beutel voller Stoffreste. Es sind Stoffreste, die sich mit meinem Leben verknüpfen.
Ein Beutel voller Erinnerungen
Auf dem Boden vor meinem Kleiderschrank lasse ich die Erinnerungen kommen und gehen. Beim Blick auf die alte Bettwäsche denke ich an mein Kinderzimmer zurück. Ich sehe es vor mir, weiß noch genau, wo mein Schreibtisch und wo mein Bett stand. Die Cordhose aus meiner Zeit als Studentin erinnert mich an einen Abend, als ich mit großem Liebeskummer einmal nachts im strömenden Regen nach Hause gefahren bin.Zu fast allen Stücken fällt mir eine kleine Geschichte ein: ein bestimmter Ort, eine andere Person, ein Gefühl. Eben etwas, das sich mit meinem Leben verbindet.
Ein Gedicht für Stoffreste von Cora Coralina
In vielen Haushalten gibt es solche Beutel, Lappen und Lumpen aller Art. Cora Coralina, eine brasilianische Dichterin, hat den Stoffresten ein eigenes Gedicht gewidmet. Sie ist Ende des 19. Jahrhunderts geboren, in einer Zeit, in der Kleidung ein kostbares Gut war. Ich habe das Gedicht auf der Weltversammlung von Christinnen und Christen in Karlsruhe gehört. (1) Cora Coralina schreibt:
Ich bin aus Stoffresten gemacht.
Farbige Teilchen von jedem Leben, das an meinem vorbeigeht
und das ich in meine Seele nähe.
Nicht immer sind sie schön, nicht immer glücklich,
aber sie fügen hinzu und lassen mich die sein, die ich bin.
Stoffreste meines Lebens
Das sind die Gedanken von Cora Coralina. Ich finde mich darin wieder und denke an die Stoffreste meines Lebens, an Menschen und Situationen, von meiner Kindheit bis heute. Wenn ich sie aneinanderlege und zusammennähe, entsteht ein Patchwork – ein Bild der Person, die ich heute bin.
Ich bin aus Stoffresten gemacht. So beschreibt die Dichterin Cora Coralina aus Brasilien ihr Leben. Jeder Fetzen, jeder Ärmel einer Bluse, jedes Hosenbein erinnert an einen Moment des eigenen Lebens. Sie lassen mich die sein, die ich bin.
Eva aus Chile
Mir hat eine Frau erzählt, was sie mit den Stoffresten aus ihrem Haushalt macht. Sie heißt Eva kommt aus Chile. Sie trifft sich donnerstags vormittags mit einer Gruppe anderer Frauen in der Kirche zum Austausch und zum Nähen. Eine Gruppe von jungen und älteren Frauen, die sich gegenseitig stärken wollen. Die Frauen kommen aus einfachen Verhältnissen, die meisten arbeiten als Putzhilfen und versuchen, damit etwas Geld für sich und die Familie zu verdienen. Viele von ihnen haben häusliche Gewalt erfahren. Eva erzählt mir, dass sie ihren Mann verlassen hat. Sie sagt: „Er hat viel getrunken. Und wenn er spät abends nach Hause kam, hat er mich oft angeschrien und geschlagen.“ Sie hat es geschafft, sich von ihm zu trennen und sorgt nun allein für ihren Unterhalt.
Für jede Lebensgeschichte ein Stoffrest
Der Donnerstagvormittag ist Eva heilig. Sie bringt ihre Tasche mit Stoffresten mit und setzt sich in den Stuhlkreis. 10 Frauen sind sie in ihrer Gruppe. Sie erzählen sich von den Gewalterfahrungen, die sie als Kind oder später als Frauen erleben mussten, aber auch von schönen Momenten, zum Beispiel von der Geburt ihrer Kinder oder vom Tag ihrer ersten Anstellung. Eva erklärt mir: „Immer, wenn eine von uns mit ihrer Geschichte fertig ist, legt sie einen Stoffrest in die Mitte. Der Stoffrest zeigt den anderen: Genauso war es. Ich habe es erlebt.“
Bilderteppiche, aus einzelnen Lebensgeschichten werden zu einem großen Ganzen
Wenn alle ihre Geschichte geteilt haben, dann nähen sie ihre Stoffreste zusammen. Daraus entstehen große Bilderteppiche, die von ihrem Leben und von ihren Träumen erzählen. Ich sehe Bäume mit Rosen, Flüsse aus verschiedenen Blautönen und tanzende Frauen. Ein Bilderteppich, der einzelne Erlebnisse in ein großes Ganzes verwandelt. Der Bilderteppich erinnert mich an ein Wort aus der Bibel. Da wird das Leben, jedes Leben, als Stückwerk bezeichnet. Stückwerk, das ist ein Teil, das nicht allein fertig und ganz ist. Bei Gott aber fügt sich alles in ein großes Ganzes. (1. Korinther 13,12)
Wie sieht der Bilderteppich meines Lebens aus?
Mich regen die Geschichten der Frauen an. Ich frage mich: Wie sähe der Bilderteppich meines Lebens aus? Welche Farben wären darauf zu erkennen? Was von meinem Leben würde auf ihm zu sehen sein?
„Ich bin aus Stoffresten gemacht. Farbige Teilchen von jedem Leben, das an meinem vorbeigeht und das ich in meine Seele nähe. (…) In jedem Treffen, in jedem Kontakt wachse ich. In jedem Stoffrest ein Leben, eine Lektion, eine Liebe, eine Nostalgie. (…) Und das Beste daran ist: dass wir niemals fertig, vollendet sind.“
So beschreibt die brasilianische Dichterin Cora Coralina die Fragmente, aus denen sich das Leben zusammensetzt.
Auch bei mir verweben sich die Stoffreste meines Lebens zu einem großen Ganzen. Wie bei Eva und den anderen Frauen in der Kirche, die einen Bilderteppich nähen, setze ich die Stoffreste meines Lebens zu einem Bild zusammen:
Bunte Flicken und viele weiße Stellen
Karierte Flicken erinnern mich an meine Kindheit, ausgelassen und bunt und laut. Ein grüner Flicken erinnert mich an den großen Kastanienbaum vor unserem Haus. Und auch der Stoffrest meiner blauen Cordhose findet einen Platz. Er erinnert mich an den Liebeskummer meines Lebens, als ich nachts durch den Regen gefahren und durchweicht nach Hause gekommen bin. In Gedanken setze ich die Stoffreste meines Lebens zusammen. Das Bild ist nicht fertig. Es gibt viele weiße Stellen, die noch offen sind.
"Immer wird es noch ein Teil geben, um es der Seele hinzuzufügen."
Cora Coralina beschreibt in ihrem Gedicht: "Immer wird es noch ein Teil geben, um es der Seele hinzuzufügen." Und sie wünscht sich, dass sich die Stoffreste des Lebens aller Menschen miteinander verweben. Sie hofft, dann werden wir uns, so wörtlich, „Stück für Stück (…) in ein riesiges Bild des ‚wir‘ verwandeln können.“
Ich selbst glaube fest daran: Bei Gott werden die Stoffreste meines Lebens und die Stoffreste aller anderen zu einem einzigartigen Bilderteppich zusammengenäht. Jeder Mensch und jeder Moment des Lebens wird einzeln betrachtet und wertgeschätzt.
Bei Gott werden die Stoffreste aller Leben zu einem Ganzen gefügt
Wie der Bilderteppich dann aussehen wird, weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher: In ihm werden die traurigen Erfahrungen meines Lebens, die grauen und zerrissenen Flicken, ebenso Platz haben wie all die Stoffreste aus leuchtend schönen Farben. Erfahrungen von Gewalt werden sichtbar, wie Eva und viele Frauen aus ihrer Gruppe sie erleben mussten. Doch sie bleiben nicht vereinzelt. Sie verweben sich mit anderen Geschichten, mit fröhlichen Stunden, wo Menschen ausgelassen sind, sich vertrauen und lachen.
Ein weltumspannender Bildteppich
Die Erfahrungen aller Menschen ergeben zusammen einen weltumspannenden Bilderteppich. Am Ende ihres Gedichtes steht für die brasilianische Dichterin Cora Coralina daher die Dankbarkeit.
„Deshalb: Danke an euch alle, die ihr Teil meines Lebens seid und mir erlauben, meine Geschichte zu erweitern mit den Stoffresten, die ihr in mir gelassen habt. (…) Ich bin aus Stoffresten gemacht. Danke für jedes Teil.“
1 Quellenangabe für das Gedicht: https://www.elyvidal.com.br/sou-feita-de-retalhos-pedacinhos-cora-coralina/ (Zugriff: 26.09.2022); deutsche Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch: Ute Seibert.