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Die gute alte Zeit

Die gute alte Zeit

Anke Jarzina
Ein Beitrag von Anke Jarzina, Katholische Pastoralreferentin in der Pfarrei St. Peter und Paul in Wiesbaden
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Völlig fassungslos starren mich meine Kinder an, 7 und 12 sind sie. Ich hab ihnen gerade erzählt: „Als ich in eurem Alter war, da gab es noch gar keine Handys – und auch kein Internet!“ Kein Internet! Für meine Kinder und viele andere in ihrem Alter ist das schlichtweg nicht vorstellbar. Ihnen geht es wahrscheinlich ähnlich wie mir, als mir meine Eltern klarzumachen versuchten: „Früher hatten die meisten Leute keinen Fernseher!“ Du lieber Himmel! Keinen Fernseher! Für mich war das im Teeniealter die Informations- und Unterhaltungsquelle Nummer eins. Genau so, wie die Handys für die jungen Leute von heute.

Draußen spielen statt Insta und Facebook

Tja, damals, in den 90ern, haben die Uhren irgendwie langsamer getickt. Ich hab noch im Lexikon nachgeschlagen, wenn ich etwas wissen wollte, „googeln“ gab es nicht. Und wenn der Fernseher aus war, war er aus! Ständig „online“ war höchstens die Wäsche auf der Leine. Nach den Hausaufgaben sind wir damals meistens nach draußen – irgendwer war immer da und hatte Lust, zu spielen oder einfach abzuhängen. Ich hab das Gefühl: Zeit hatten damals irgendwie alle mehr. Und draußen sein hieß tatsächlich: draußen sein. Und nicht zeitgleich auf Insta, Snapchat und Facebook erreichbar. Hach, die gute alte Zeit. Wenn ich so darüber nachdenke, spüre ich so eine richtige Sehnsucht in mir aufsteigen: nach Entschleunigung, nach Zeit haben, nach dem Leben VOR der totalen Digitalisierung.

"Digitale Entgiftung" für eine begrenzte Zeit

Ein Leben ohne Handy und Internet, ohne ständige Erreichbarkeit und ohne unendlichen Informationsfluss. Einerseits klingt das richtig gut. Nach „digital detox“, also „digitaler Entgiftung“, wie es immer mehr Menschen ganz bewusst praktizieren, manchmal für eine Stunde am Tag oder auch mal für ein ganzes Wochenende. Ja, es tut gut, mich für eine begrenzte Zeit rauszuziehen. Mal nicht in der digitalen Welt herumschwirren. Sondern: Offline sein und nur bei mir. Mich gewissermaßen erden.

Aber: War damals, ohne Internet und Technisierung der Welt, wirklich alles besser, in der „guten, alten Zeit“? Ich glaube nicht. Hand aufs Herz: Will ich wirklich auf die angenehmen und praktischen Seiten verzichten, die die Digitalisierung mit sich bringt? Zum Beispiel: Bequem shoppen und bestellen vom Sofa aus. Unkompliziert Kontakte knüpfen und pflegen. Hilfsnetzwerke spannen und mich solidarisieren. Die digitale Vernetzung ermöglicht so viel Gutes! Ganz ehrlich: Gerade in der Coronazeit wäre ich ohne Internet komplett verrückt geworden.

Unbeschwerte Kindheit

Trotzdem: So ein bisschen Nostalgie darf schon mal sein. Immerhin war meine Kindheit im Vergleich zu der meiner Kinder unglaublich unbeschwert: kein Corona, kein Krieg auf europäischem Boden, „Klimawandel“ war ein Wort für Spezialisten – und der 11. September – den haben wir übrigens heute – war ein Tag wie jeder andere auch.

"Schreckliche alte Zeit" in der Kirche

Die gute alte Zeit: die ist offenbar vorbei. Aber vielleicht war sie auch nie so gut. In meiner katholischen Kirche hat die gute alte Zeit einen bösen Beigeschmack. Der Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in den letzten Jahrzehnten ist einfach nur grauenhaft. Ich hab viele wunderbare Erinnerungen an meine Kindheit, auch in der Kirche – wunderbare Gottesdienste, Prozessionen, Zeltlager, internationale Begegnungen… Ich hatte Glück. Aber für andere war das ganz anders. Sie hatten nicht nur kein Glück, sondern haben furchtbares Leid durch dieselbe Kirche erfahren. Das war dann keine gute alte Zeit, sondern eine ganz schreckliche alte Zeit.

Reformen beim "Synodalen Weg"

Und deswegen ist es gut und notwendig, dass eine neue, bessere Zeit anbricht, dass sich viele Menschen für Veränderungen einsetzen – wie die über 200 Katholikinnen und Katholiken, die in den letzten Tagen in Frankfurt beim Reformprozess „Synodaler Weg“ getagt haben. Eine konkrete Veränderung ist zum Beispiel: Frauen predigen in katholischen Gottesdiensten. Das war Nicht-Klerikern in der guten alten Zeit verboten und ist es bis heute. Trotzdem legen heute in vielen Gemeinden Frauen die Bibel aus, etwa in Frankfurt in der Frauenfriedens-Kirche. Das geht noch die ganze Woche so, die Termine finden sich im Internet (https://frauen.bistumlimburg.de/fileadmin/redaktion/Bereiche/frauen.bistum-limburg.de/Frauenpredigtwoche/2022_Frauenpredigtwoche-Plakat-Termine-Endversion.pdf). Ich finde, das ist eine klasse Initiative! Frauen sollten die Bibel mit auslegen – denn es entgeht uns wirklich was, wenn die Hälfte der Menschheit nicht predigen darf. Und Studien sagen: Wenn Frauen stärker beteiligt werden, stärkt das auch Strukturen, die Missbrauch verhindern. Das ist notwendig im wahrsten Sinn des Wortes!

Veränderungen: anstrengend und notwendig

Auch, wenn Veränderungen manchmal Angst machen oder anstrengend sind: Sie sind ja notwendig. Jede Organisation, jede Beziehung, jeder Mensch braucht Veränderung. Und wir können an der Veränderung mitwirken. Statt zu resignieren und zu denken: „Früher war einfach alles besser“, versuche ich zu sehen, was jetzt gut ist oder sogar in der Zukunft noch besser werden kann. Welche Energien durch Veränderungen frei gesetzt werden, welches Potential auf einmal zutage tritt, das ich vorher nicht für möglich gehalten habe. Zum Beispiel ist die Innenstadt in Barcelona seit ein paar Jahren komplett autofrei. Das geht tatsächlich! Die Folgen: bessere Luftqualität, weniger Lärm, mehr Platz für Menschen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, mehr Sicherheit und mehr Klimaschutz. Solche großen Aufbrüche machen mir Mut für die Zukunft, für neue Zeiten.

Die gute Zeit in "JETZT"

Und im Kleinen mag ich es, ab und zu für ein paar Stunden so zu tun, als wäre es früher, 1992 zum Beispiel. Dann lasse ich mein Handy zu Hause und gehe eine Runde spazieren, einfach so, ganz zweckfrei, ohne Fitness. Oder ich schaue eine Folge meiner damaligen Lieblingsserie auf DVD an (der Videorekorder hat leider vor ein paar Jahren den Geist aufgegeben). Oder ich blättere in meiner Bibel aus Papier, die ich damals zu meiner Firmung geschenkt bekommen habe. Einer meiner Lieblingssprüche steht im zweiten Brief des Apostels Paulus an die damalige Gemeinde im griechischen Korinth, und er lautet: „Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.“ (2. Korintherbrief, Kapitel 6, Vers 2). Ich mag diesen Ausspruch, denn er bedeutet: Nicht nur die alten Zeiten hatten ihr Gutes, sondern alle Zeiten! „JETZT ist die Zeit der Gnade!“ Und „jetzt“ ist ja eigentlich immer, wenn ich es denke. JETZT. Der Glaube daran, dass Gott mit uns durch alle Zeiten hindurch geht, immer im JETZT da ist, stärkt meine Hoffnung und meine Zuversicht: Es wird eben nicht immer schlimmer, und früher war auch nicht alles besser. Es gibt keine gute alte Zeit und auch keine gute neue: Alle Zeiten sind gut. Ich will heute mal bewusst durch diesen Sonntag gehen und denken: „JETZT ist die Zeit der Gnade“. Vielleicht fallen mir heute Dinge ins Auge, die genau das bestätigen: „JETZT ist die Zeit des Heils.“

 

 

 

 


 

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