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Vorfreude ist die schönste Freude
Bild: pixabay

Vorfreude ist die schönste Freude

André Lemmer
Ein Beitrag von André Lemmer, Katholischer Pfarrer in der Pfarrei Sankt Elisabeth in Kassel
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Es ist eigentlich schon am Gate klar. Neben den anderen Fluggästen, die wie ich ganz in Ruhe aufs Boarding warten, ist da diese eine Gruppe feiernder junger Leute. Bei meinem Glück – so denke ich mir – sitzen die gleich hinter mir im Flieger nach Mallorca. Sie werden dann gegen meinen Sitz rempeln, laut reden, lachen, feiern und ich bin diesem Treiben dann die nächsten zwei Stunden ausgeliefert. Genervte Falten erscheinen auf meiner Stirn und meine Mundwinkel ziehen sich langsam nach unten.

Ich suche in meinem Rucksack schon mal nach meinen Kopfhörern, um den Lärm zu übertönen. Beim Blick in die Wartehalle bemerke ich in den Gesichtern vieler anderer Menschen die gleichen genervten Gesichtszüge, wenn sie auf die Gruppe schauen.

Können die nicht mal warten, bis sie auf der Insel sind? Denke ich mir und ziehe mir meinen Strohhut tiefer ins Gesicht, gerade so tief, dass ich diese Rabauken noch beobachten kann. Schon kommt einer mit ein paar Flaschen Bier und verteilte sie in die Runde, ein anderer packt einen Fußball aus und das ganze Gate wird zum Spielplatz.

Nach dem Boarding sind alle Hoffnungen zerschlagen. Ich bin tatsächlich umzingelt von dieser Gruppe. Vor, hinter und neben mir wird gelacht, laut geredet und ständig stößt irgendjemand an meinen Sitz.

Endlich Ruhe?

Ich will doch einfach nur meine Ruhe haben, denke ich mir und ich werde von Minute zu Minute innerlich wütender. Eine Frau ein paar Reihen weiter macht sich dann auch schon Luft: "Könnt ihr nicht einfach mal die Klappe halten? Ihr seid nicht alleine in diesem Flugzeug! Dumme Jugend", sagt sie. Und ich verstehe sie sehr, sehr gut. Schlagartig kehrt Ruhe ein. Ein paar der jungen Leute kichern und äffen die Frau ganz leise nach. Aber sei´s drum, es ist ruhig. Innerlich applaudiere ich der Frau, die sich getraut hat, mal das zu sagen, was alle dachten.

Doch dieser Frieden währt nicht lange. Nach wenigen Minuten weis wieder einer ne Geschichte zu erzählen und andere diskutieren laut, ob nun eine Runde Bier bestellt werden soll. Alles wie vorher. Meine Kopfhörer können nur einen Teil des Lärmpegels von mir fernhalten. Ich überlege mir gerade schon, was ich sagen werde, wenn mir gleich der Kragen platzt und setze meine Kopfhörer ab. Da bekomme ich ein Gespräch mit. Ein Mann, vielleicht gerade im Rentenalter, hat begonnen, sich mit einem Ruhestörer zu unterhalten. Sie sprechen über die Insel, die schönen Strände und natürlich über die unterschiedlichen Planungen und Erwartungen an den Urlaub. Der ältere Herr spricht von der Ruhe, den Wellen am Strand, den schönen Abenden in seiner Ferienwohnung und wie gut er dabei abschalten kann. Der junge Mann erzählt vom Trubel am Ballermann und wie sehr er und seine Freunde sich schon darauf freuen, mitten in dieses Getümmel einzutauchen und zu feiern. So unterschiedlich die beiden Vorstellungen auch sind, die beiden unterhalten sich und tauschen ihre Erwartungen und ihre Vorfreude aus. Ich höre noch eine Weile zu und setze dann meine Kopfhörer wieder auf.

Vorurteilslose Begegnungen

Irgendwie hat dieses Gespräch mit mir etwas gemacht. Ich denke an meine Vorfreude auf das, was mich in den nächsten Tagen erwartet. Immer wieder kommen meine Gedanken auf diese zwei unterschiedlichen Menschen zurück, die sich immer noch angeregt unterhalten. Obwohl die Gruppe weiterhin laut ist, hat der ältere Herr etwas, was ich nicht habe: ein Lächeln im Gesicht. Trotz Lärm hat er seine Vorfreude. Vielleicht, weil er den jungen Leuten nicht zornig begegnet, sondern wohlwollend seine Freude teilt.

Jesus hat doch auch so gelebt, denke ich mir. Er ist den Menschen so oft wohlwollend begegnet, auch wenn sie ihn zeitweise sicher genervt haben. In dem Teil des Evangeliums nach Lukas, den katholische Christen heute in der Kirche hören, sendet Jesus seine Jünger aus. Sie sollen vom Reich Gottes reden, die Menschen heilen und ihnen beistehen. Jesus ermahnt sie: Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als Erstes: Friede sei diesem Haus. (Lk 10, Vers 5)

Ist das nicht eine tolle Haltung? Bevor ich weiß, was mich erwartet, bevor ich mich meinen Vorurteilen ergebe, wünsche ich erst mal Frieden. Die Jünger Jesu sollen vorurteilslos und voller guter Wünsche in die Begegnung mit Menschen gehen. Dabei sollen sie selbst in Vorleistung gehen. Das bedeutet doch für mich: Ich muss versuchen, den Frieden, das Gute, was ich haben möchte, zuerst selbst zu teilen. Und das ist nicht nur mit dem Frieden so. Ich darf nicht erwarten, dass andere meine Erwartungen und Sehnsüchte erkennen und sich dementsprechend verhalten. Ich sollte doch vielmehr selbst in Vorlage gehen. Zunächst macht das nämlich etwas mit mir. Wie meine Kopfhörer blendet meine Vorfreude, wenn ich sie Teile, so einige negative Dinge aus. Sie verschwinden dadurch zwar nicht, aber sie werden weniger dominant in meinem Denken. Das Schöne, das Gute wird dadurch spürbar und hebt meine Laune.

Was wäre wohl gewesen, wenn ich am Gate nicht gleich sauer geworden wäre? Habe ich nicht zu diesem Zeitpunkt schon meinen inneren Frieden verloren? Daran waren aber nicht die jungen Leute schuld, sondern ich ganz allein. Allzu gerne habe ich mich innerlich aufgeregt und die Vorfreude dieser Menschen nicht eine Sekunde lang bedacht oder gelten lassen. Der ältere Herr im Flieger hat das gemacht. Anstatt genervt zu reagieren, hat er mitgeteilt, worauf er sich freut und hat damit erreicht, dass er seine Freude weiter auskosten konnte.

Wieder einmal zeigt sich für mich, dass die Aussagen Jesu im Neuen Testament nicht nur praktische Lebenstipps sind, die wir von so manchen Coaches heute auch bekommen können. Vielmehr will Gott, dass seine Worte nicht nur Gesetze und Regeln sind, die ein gutes Miteinander der Menschen ermöglichen. Seine Worte sollen zunächst in mir etwas bewirken und ganz konkret mir zunächst einmal guttun. Das darf ich genießen und auskosten. Dadurch wird dann das, was ich nach außen trage, erst wirklich echt und kann anderen Menschen auch guttun.

Die goldene Regel

Jesus hat uns die goldene Regel gegeben: Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen. (Mt 7, 12)

Das gelingt nur dann, wenn ich nicht nur auf mich schaue, sondern auch den anderen wahrnehme. Ich darf also mein Erwarten und das Erwarten anderer Menschen durchaus einmal zusammenbringen. Dann kann ich vielleicht verstehen, dass zwischen mir und der Gruppe junger Leute am Gate gar keine so großen Unterschiede sind. Wir freuen uns alle auf die Zeit, die vor uns liegt und können es kaum erwarten. Eigentlich wollen wir schon jetzt damit beginnen, den Urlaub voll auszukosten. Doch jeder will das auf seine Weise tun. Und eigentlich gönnen wir es einander auch. Natürlich sollte jeder dabei darauf achten, dass wir den anderen nicht dabei stören oder gar verärgern. Aber es lohnt sich in solchen Situationen sich selbst genau im Blick zu behalten. In manchen Situationen ist es einfach wichtiger, bei der eigenen Freude zu bleiben. Gerade nicht sofort andere verantwortlich zu machen und sich zu ärgern. Manchmal ist es auch lohnender, zunächst bei sich selbst zu bleiben. Manchmal sollte ich mich, sollten sich jeder doch daran erinnern, wie wichtig es ist, Frieden und Freude zu verbreiten und nicht die anderen in ihrer Freude zu bremsen.

Der ältere Mann im Flieger hat mir das eindrucksvoll gezeigt. Sein Gespräch mit dem jungen Mann hat auch mir meine Vorfreude und Ausgeglichenheit wieder gegeben. Davon wurden die anderen Leute nicht leiser, aber mal ganz ehrlich: Ich wollte doch auch gar keine Ruhe und Stille auf dem Flug. Ich wollte doch nur meine Vorfreude auskosten. Die jungen Leute stören mich plötzlich gar nicht mehr so. Irgendwie freue ich mich auch für ihre Vorfreude, auch wenn diese Art von Urlaub sicher nicht meine ist.

Beim Aussteigen aus dem Flugzeug spricht mich einer aus der Gruppe an und entschuldigt sich für den ganzen Lärm. Ich schaue ihn an und kann mit einem ehrlichen Lächeln im Gesicht sagen: "Ach wissen Sie, ich wünsche Ihnen einen richtig schönen Urlaub, der so weitergeht, wie er angefangen hat." Wir lächeln nun beide und gehen in den Urlaub, auf den wir uns so lange schon gefreut haben.

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