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Trag mich
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Trag mich

Ayleen Nüchter
Ein Beitrag von Ayleen Nüchter, Katholische Gemeindereferentin im Pastoralverbund St. Benedikt Hünfelder Land
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Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, fallen mir Situationen ein, von denen ich noch genau weiß, wie sie sich angefühlt haben. Ich kann mich daran erinnern, den noch nicht gebackenen Kuchenteig mit den Fingern aus der Schüssel zu naschen und das wöchentliche Ritual am Samstagabend gebadet zu werden und danach im Kapuzenhandtuch vor dem Kamin zu trocknen. Ich glaube einen solchen Kindheitsmoment, dessen Gefühl man auch nach Jahren nicht vergisst, durfte ich vergangene Woche beobachten. Es war am frühen Sonntagmorgen. Der Himmel war hellblau, mit einigen weißen Wölkchen verziert. Draußen war es ruhig. Auf den Straßen war kaum jemand zu sehen. Die aufgehende Sonne blendete mich etwas und brachte mich am Ortseingang des Nachbardorfs zum Abbremsen. Hier kreuzt der beliebte Radweg aus meiner Heimat die Hauptstraße, auf der ich fuhr.

Im Vorbeifahren sah ich einen Mann Mitte dreißig. Er war in kurzer Hose, einem sportlichen Shirt und Sneakers auf der Straße unterwegs. Schon auf den ersten Blick fiel mir auf, dass er nicht allein war. Auf seinem Arm trug er sein Kind. Der Junge hatte sich mit beiden Armen fest um den Hals seines Vaters geklammert. Die Augen des Kindes waren geschlossen und der Gesichtsausdruck entspannt. Trotz, dass die Füße in den Kindersandalen schon bis zu den Knien des Vaters reichten und obwohl der Kleine bereits selbst das Laufen beherrschte, wurde er getragen. Die roten Wangen des Vaters ließen mich erahnen, wie anstrengend es für ihn sein musste. Mit einer Hand streichelte der Mann den Kopf des Jungen, mit dem anderen Arm hielt er ihn gut fest. Dem vorangegangenen Weg nach waren die beiden schon länger auf den Beinen.

Vielleicht taten dem kleinen Jungen die Füße weh oder er wurde während des langen Spaziergangs am Morgen müde. Was auch immer die Ursache für diese vermeintlich gewöhnliche Alltagssituation war: Der Anblick zwischen dem Vater und seinem Kind weckte in mir, wonach ich mich - auch heute noch - zutiefst sehne. Ich spreche von dem Wunsch, dem echten Verlangen nach dem Gefühl des Getragen-Seins. Es verleiht mir als getragener Mensch Halt und Sicherheit. Die Sehnsucht danach spüre ich besonders in Momenten, in denen mir eine Pause guttäte, aber nirgends ein Rastplatz zu sehen ist. Momente, in denen ich mir nichts lieber wünsche als jemanden, der mich hochnimmt und mir ein Stück des Weges erträglicher macht. Der von Wehmut getrübte Blick von mir trifft den Spaziergänger, der inniglich seinen Sohn im Arm trägt. Was empfinden Sie? Mir kam unmittelbar folgender Gedanke in den Sinn: "Einmal wieder Kind sein, das wär’s."

Gott trägt mich und andere.

Inzwischen bin ich 26 Jahre alt und daher immer weniger in der Situation, die Getragene zu sein. Das war zumindest mein erster - zugegebenermaßen - etwas trauriger Gedanke, als ich dem Vater mit seinem Sohn nachschaute. Doch bereits in dem Augenblick, als die beiden im Innenspiegel meines Autos immer kleiner wurden, schüttelte ich meinen Kopf in dem Bewusstsein: Das Gefühl des Getragen-Seins ist nicht bloß eine Sehnsucht, die mich an behütete Kindheitsmomente erinnern soll – nein. Beim näheren Hinsehen darf auch ich heute noch - als erwachsene Person - Momente erleben, in denen ich mich wie getragen fühle. Ich ertappe mich jedoch dabei, meist erst im Rückblick auf bestimmte Situationen festzustellen, dass ich die ein oder andere Hürde nicht allein aus eigener Kraft genommen habe.

Einer, der mir auf ganz unscheinbare Weise beim Tragen von Sorgen hilft und mich gleichermaßen auf die Schultern nimmt, ist Gott. Als Christin darf ich mich in meiner Hilflosigkeit und mit all dem, was mein Herz schwer macht, im Gebet an ihn wenden. Da kann sich zum Beispiel das Entzünden einer Kerze so anfühlen, als würde ich getragen. Und dann sind da noch Begegnungen, die Gott mir ermöglicht, indem er mir genau die richtigen Mitmenschen an meine Seite stellt. Ob in meinem Berufsalltag, aber auch, wenn ich im Gottesdienst gemeinsam mit meiner Gemeinde das Vaterunser spreche. In dem Bewusstsein einer Gemeinschaft tut mir das gegenseitige Mittragen der Sorgen und das bewusste Hinhalten des Gebetes vor Gott unheimlich gut.

Mit Blick in das Alte Testament der Bibel finde ich Gleichgesinnte, die von derselben Zuversicht erfüllt sind, wie ich es bin. Menschen schrieben vor Jahrtausenden grundlegende Erfahrungen ihres Lebens in den Psalmen nieder. Sie haben diese Eindrücke als Gebete, Lieder und poetische Zeilen formuliert. Einer von den über 100 Psalmen spricht mich mit Blick auf den Wunsch des Getragen- und Behütet-Seins an.

In Psalm 91,11 heißt es: "(…) er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt."

Diese Zeilen beschreiben vertrauensvoll, wie sehr ich mich bei Gott aufgehoben fühlen darf. Er stellt da, wie Gott seine Engel damit beauftragt, mich durch seinen Schutz in das Gefühl des Getragen-Seins zu heben. Mein Vertrauen auf diese Zeilen, die so gut wiedergeben, was Gott für uns Menschen tut, stärkt mich in Momenten, in denen die Sehnsucht nach dem echten "Getragen-Werden" am größten ist.

Wir tragen uns gegenseitig.

Das Vertrauen auf Gott, auf meine Mitmenschen und auch auf mich selbst helfen mir dabei, meinen Nächsten zu tragen. Manchmal bedarf es eines tieferen Blickes, ab und an reicht aber auch lediglich eine kleine Portion Mut, jemandem ganz bewusst das unbeschwerte Gefühl des Getragen-Seins zu ermöglichen.

Ich bin gewiss, jeder und jede darf darauf hoffen, für bestimmte Wegstrecken im Leben auf die Stärke und die Bereitschaft des Mittragens zählen zu können. Beim einander Tragen geht es also nicht zwingend um das tatsächliche Hochheben einer Person; selbst in kleinen Gesten kann ich mitanpacken, wenn jemand an etwas schwer trägt. Manchmal genügt es schon, wenn ich einem Freund nach einem anstrengenden Tag verständnisvoll zuhöre. Umgehend wird das, was mein Gegenüber belastet, leichter. Vielleicht kennen Sie das auch, sobald Ihnen jemand in einer schweren Lebenslage seine Zeit schenkt und zuhört, kann die eigene Seele besser zur Ruhe kommen.

Das Sich-gegenseitig-Tragen kann also gut im Miteinander unter uns Menschen geschehen. Im heutigen Schrifttext des Tages fasst Jesus in einem zentralen Gebot zusammen, was für ihn im Umgang unter uns Menschen unabdingbar ist: Er richtet sich mit einem Appell an seine Jünger und bittet sie: "Das ist mein Gebot, liebt einander, so wie ich euch geliebt habe." (Joh 15,12) Um jemandem das Gefühl zu geben, ich trage ihn oder sie, braucht es also die Liebe.  

Mit diesem Wissen möchte ich Sie einladen, in den kommenden Wochen Ausschau zu halten. Halten Sie mit mir Ausschau nach Situationen, in denen Sie spüren; von Gott, von Ihren Mitmenschen und von Augenblicken des Glücks, getragen zu sein. Bleiben wir wachsam und ergreifen die ein oder andere Chance, selbst für jemanden als Stütze zu dienen. Da ich selbst in den kommenden Tagen zum ersten Mal Mutter werde, erhoffe ich mir besonders in der Zeit des Neubeginns Menschen an meiner Seite, die mich beim Tragen dieses kleinen Wesens unterstützen. Ich bin überzeugt, diese Aufgabe bringt jede Menge Zeiten des Tragens und auch die des Getragen-Seins mit sich. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Gottes Segen, seinen uns tragenden Beistand und unzählig viele Momente wie die des kleinen Jungen auf dem Arm seines Vaters.

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