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Ein Herz mit Ecken zum Muttertag
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Ein Herz mit Ecken zum Muttertag

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Über unserem Essplatz in der Küche hängt ein rotes Herz. Es war ein Geschenk zum Muttertag von meiner Tochter. Sie war damals 4 Jahre alt und hat das Herz so ausgeschnitten, wie es Kindergartenkinder eben können: mit unzähligen Ecken und Kanten, vor allem aber mit viel Liebe.

Muttersein mit viel Liebe, aber auch mit vielen Ecken und Kanten

Dieses Herz erinnert mich täglich daran: die Sache mit dem Muttersein ist so ähnlich: mit viel Liebe, aber auch mit vielen Ecken und Kanten. Sie ist alles – nur nicht einfach. Wenn das Kinderzimmer mal wieder aussieht, als wäre eine Horde Pferde durchgaloppiert, dann fällt es mir schwer, ruhig zu bleiben. Für die Kinder bin ich dann die „blöde Mama“, die immer nur meckert. Ich selbst fühle mich in dieser Rolle unwohl und bin dankbar, wenn mein Mann zwischen mir und den Kindern vermittelt.

Muttertag ist für viele eine Angelegenheit mit gemischten Gefühlen

Der Muttertag ist für viele eine Angelegenheit mit gemischten Gefühlen. Denn viele Mütter haben das Gefühl: Wenigstens heute muss es doch klappen, dass alles perfekt ist. Dazu gehören Liebesbriefe oder kleine Geschenke der Kinder, helfende Hände und vor allem: kein Streit. Der Druck ist in manchen Familien so groß, dass bereits am Frühstückstisch die Tränen fließen.

In der DDR gab es keinen Muttertag

In meiner Kindheit gab es keinen Muttertag. Das hat damit zu tun, dass ich in der DDR aufgewachsen bin – und da wurde dieser Tag nicht zelebriert. Für mich ist das ein Geschenk. Denn ich habe dadurch keine großen Erwartungen an den Muttertag, die andere erfüllen müssten.

Der "Día de la madre" - ein wichtiger Feiertag in Südamerika

Ganz anders kenne ich die Feiern zum Muttertag aus Lateinamerika, wo ich es vor ein paar Jahren miterlebt habe: Der Día de la madre, der Muttertag, ist nach Weihnachten einer der wichtigsten Feiertage. Ein Fest für die ganze Familie: da wird gekocht, gebacken, getanzt und gefeiert!

Muttertag: Ein Tag mit einer großen Spannbreite

In dieser Spannbreite liegt der Muttertag: die einen feiern den Muttertag, freuen sich über Blumen, Schokoherzen und liebevolle Worte, die anderen zucken mit den Schultern und können damit nur wenig anfangen. Für manche ist der Muttertag auch ein schmerzlicher Tag, weil sie ihre Mutter vermissen, die viel zu früh gestorben ist.

Anderen haben ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. Kürzlich habe ich eine Frau beerdigt. Ihre Töchter haben mir davon erzählt, wie schwer es mit ihrer Mutter war. Sie haben sich schon als Kinder oft von ihr abgewiesen gefühlt, nicht am richtigen Platz. Als ihre Mutter krank wurde, versuchten sie den Kontakt zu beleben. Sie wollten es besonders in der letzten Zeit gut machen, aber stießen wieder nur auf Abwehr.Die eine Tochter sagte mir: „So schwer es mit meiner Mutter war – ich habe jetzt die Chance, es mit meinem eigenen Kind anders zu machen.“

Mich bewegt diese Geschichte. Das schwierige Verhältnis zur eigenen Mutter hat die Tochter nicht davon abgehalten, selbst Mutter zu sein. Im Gegenteil: Obwohl sie bei ihrer Mutter angeeckt ist, hat sie ein großes Herz für ihr eigenes Kind.

Musik

Welche unterschiedlichen Mutterbilder tragen Menschen mit sich?

Die Gefühle, die Menschen am Muttertag haben, sind so vielfältig wie unsere Lebensgeschichten. Die Ecken und Kanten von dem selbstgebastelten Herz meiner Tochter regen mich an, darüber nachzudenken, welche unterschiedlichen Mutterbilder Menschen mit sich tragen. Manche fühlen sich seit ihrer Geburt bei ihrer Mutter aufgehoben und haben bis ins Erwachsenenalter einen engen Draht, manche haben gebrochene Beziehungen zu ihren Müttern.

Auch in der Bibel gibt es vielfältige Mutterbilder

Vielfältige Mutterbilder finde ich schon in der Bibel. Da wird erzählt von Müttern, die keine Kinder bekommen können. Andere werden erst im hohen Alter Mütter. Die Bibel berichtet von Leihmüttern und Patchworkfamilien, von Müttern, deren Kinder schwer krank sind, und von Müttern, deren Kinder vor ihnen sterben.

Hagar, die Magd von Sarah und Abraham

Mir geht die biblische Geschichte von Hagar im 1. Buch Mose besonders nahe (1. Mose 16). Hagar lebt als Magd beim Ehepaar Sarah und Abraham. Als klar wird, dass die Ehefrau Sarah selbst keine Kinder bekommen kann, nimmt sich Abraham die Magd Hagar als Frau und sie wird schwanger von ihm.

Hagar flieht in die Wüste

Im Klartext: Hagar wird unfreiwillig schwanger, als Magd und Sklavin hat sie kein Recht, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Doch plötzlich wendet sich das Blatt: Denn als werdende Mutter ist sie nun ihrer Herrin Sarah überlegen. Das verschafft Hagar Genugtuung und führt bei Sarah zu Neid. Die Konkurrenz und der Streit zwischen beiden Frauen wächst und Hagar flieht vor Sarah hochschwanger in die Wüste.

Ich stelle mir vor, wie anstrengend es für sie ist mit dem dicken Bauch durch die Wüste zu gehen. Die Sonne brennt ihr im Nacken und ihre Füße sind schwer vom vielen Gehen.

"Du bist ein Gott, der mich ansieht"

Die Bibel erzählt weiter: An einer Wasserquelle erscheint Hagar ein Engel Gottes. Der trägt ihr auf, wieder in Sarahs Haus zurückzugehen. Sie soll dort ihren Sohn zur Welt bringen und ihn Ismael nennen. Dieser Name bedeutet: Gott hat dein Elend erhört. Hagar spricht an der Wasserquelle durch den Engel mit Gott. Ihre Flucht in die Wüste war nicht umsonst, denn hier begegnet sie Gott. Und wie Gott einen Namen für ihren Sohn findet, findet Hagar einen neuen Namen für Gott. Sie sagt: „Du bist ein Gott, der mich ansieht.“

Bei Gott fühlt sich Hagar verstanden in ihrer Rolle als werdende Mutter. Sie spürt auch, dass Gott ihre untergeordnete Rolle als Sklavin sieht. Gott schenkt ihr Würde und Kraft für ihr Leben zurück.

In einem Lied, das die biblische Geschichte von Hagar erzählt, heißt es:
Du bist ein Gott, der mich ansieht. Du bist die Liebe, die Würde gibt.
Du bist ein Gott, der mich achtet. Du bist die Mutter, die liebt.

Die Lebenserfahrungen von Frauen und Müttern in den Mittelpunkt stellen

Die Erzählung von Hagar zeigt: Es ist notwendig Orte und Zeiten zu schaffen, an denen die Lebenserfahrungen von Frauen und Müttern im Mittelpunkt stehen. Dass sie gesehen werden, von Gott und den Menschen.

Das war auch die Idee der Frau, die den Muttertag damals erfunden hat. Gleich nach der Musik erzähle ich von ihr. Und warum ich es inzwischen gut finde, dass wir ihn heute noch begehen.

Musik

Die Erfinderin des Muttertags: die US-Amerikanerin Anna Jarvis

Der Grundgedanke des Muttertages ist es: mindestens an einem Tag im Jahr Frauen Liebe und Würde entgegenbringen. Erfunden hat ihn die US-Amerikanerin Anna Jarvis. 1907 hat sie einen Gedenkgottesdienst für ihre verstorbene Mutter organisiert. Die Mutter hatte sich selbst schon in der sozialen Vernetzung von Müttern engagiert. Im Anschluss an den Gedenkgottesdienst für ihre Mutter verteilte Anna Jarvis vor der Kirche 500 weiße Blumen an andere Mütter. Das war ein Zeichen an jede einzelne Frau: Ich sehe Dich in Deiner Arbeit. Ich bewundere und achte, was du Tag für Tag leistest als Frau und als Mutter.

Die Kommerzialisierung des Muttertages hat Anna Jarvis kritisch gesehen

Anna Jarvis hat mit dieser Aktion ein Feuer entfacht. Wenige Jahre später wurde der internationale Muttertag ausgerufen, immer am zweiten Sonntag im Mai. Die Kommerzialisierung des Muttertages hat Anna Jarvis kritisch gesehen und sich deshalb sogar über die Einrichtung dieses Tages geärgert. Aber sie blieb bei ihrem Anliegen: Lasst uns sehen, was Enormes Frauen leisten, die Mütter sind oder werden.

Auf die unterschiedlichsten Lebenssituationen von Frauen und Müttern aufmerksam machen

Ich finde den Muttertag wichtig, auch wenn ich ihn in meiner Kindheit nicht kannte. Und zwar nicht, weil ich mittlerweile drei Kinder habe. Sondern weil er auf die Lebenssituationen aufmerksam macht, die Frauen als Mütter durchleben:

Mütter, die wie Hagar in der Bibel auf der Flucht sind; Mütter, die mit ihren Kindern in überfüllten Schlauchbooten übers Mittelmeer oder zu Fuß nach Europa fliehen.

Mütter, die in der Sorgearbeit für andere sich selbst vergessen.

Mütter, die in Schutzbunkern in der Ukraine Kinder zur Welt bringen.

Mütter, die um ihre kämpfenden Kinder im Krieg bangen.

Mütter, die ungewollt schwanger werden

und Frauen, die aus verschiedenen Gründen keine Mütter werden.

Mit dem Muttertag können wir diese Lebensgeschichten ins Licht stellen.

An Muttertag eine weiße Blume schenken, als Zeichen: ich sehe dich

Das wünsche ich: Dass heute Menschen Zeit finden, sich von diesen Lebensgeschichten erzählen und sich zuhören: beim Nachmittagskaffee oder beim Spaziergang draußen, im Gottesdienst und in den sozialen Medien.

Und wer mag und hat, kann wie die Muttertag-Gründerin zur Feier des Tages auch eine weiße Blume schenken, als Zeichen: ich sehe dich.

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