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Knoten lösen
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Knoten lösen

Pia Baumann
Ein Beitrag von Pia Baumann, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Ich erinnere mich, wie meine Oma im Sessel saß. Auf dem Schoß eine Handvoll gebrauchtes Geschenkband. Sorgfältig hat sie einen Knoten nach dem anderen gelöst. Sie konnte es einfach nicht wegwerfen. Immer an Weihnachten oder an den Geburtstagen hat sie das benutze Geschenkband eingesammelt. Und dann entknotete sie sorgfältig jedes Band, glättete es und wickelte es auf. Denn, so sagte sie: Zum Wegwerfen ist das viel zu schade. Das kann man gut nochmal benutzen.

Knoten hinterlassen Falten und Knicke

Trotzdem wurde das Band nie wie neu. Auch nicht nach dem Bügeln. Es blieben immer kleine Falten und Knicke übrig. Man konnte genau sehen, wo das Band einmal geknotet war. Meine Oma hat das nie gestört. Im Gegenteil. Sie war stolz darauf. Ich denke, es war zum einen Ausdruck ihrer Sparsamkeit. Als junge Frau hatte sie im Krieg und auch danach erlebt, wie es ist, wenn man wenig hat. Es war aber auch Ausdruck ihrer Wertschätzung. Etwas Schönes wegwerfen, nur wegen ein paar Knoten, das kam für sie nicht in Frage.

Maria Knotenlöserin

Vor ein paar Tagen habe ich wieder an meine Oma und ihr Entknoten gedacht. Da habe ich zum ersten Mal ein Bild in einer Augsburger Kirche gesehen. Es zeigt die Mutter Jesu und heißt: Maria - Knotenlöserin. Maria hält ein weißes Band in der Hand. Es ist auf einer Seite ganz verschlungen und verheddert. Behutsam löst Maria den ersten Knoten. Mir ist klar, was das Bild sagen will. Das Band ist wie mein Leben. Wenn ich Probleme habe, wenn sich mein Leben verknotet und verheddert anfühlt, dann wende ich mich an Maria. Sie wird sich meiner Bitten und Probleme annehmen. Sie steht Gott nahe und hat Einfluss. Als Protestantin wende ich mich im Gebet an Gott, nicht an Maria. Aber das Bild gefällt mir: Maria, die Knotenlöserin.

Mütter, Väter und Großeltern entwirren verknotete Schnürsenkel oder verstrubbelte Haare

Ich sehe in ihr eine Frau und eine Mutter. Und ich denke: Klar, weiß sie, wie das geht, Knotenlösen. Alle Mütter, Väter und Großeltern wissen das. Sie kümmern sich um verknotete Schnürsenkel, verstrubbelte Haare und verhedderte Kopfhörer. Je länger das Haar, ein Band oder eine Schnur ist, desto schneller bekommen sie Knoten. Um sie zu lösen, braucht es Geduld und Fingerspitzengefühl.

Pfadpfinder-Knoten und mehr Nützliches

Knoten sind eine Kunst für sich. Pfadfinderinnen, Segler, Chiruginnen und Bergsteiger brauchen professionelle Knoten-Kenntnisse zum Verschlingen und wieder Lösen. Doch auch ich finde - zum Beispiel im Internet - hilfreiche Tipps und Tricks zum Knotenlösen. Dort heißt es: Du musst den Knoten verstehen. Ihn aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Dann musst du dem Knoten ein wenig Luft geben. Ihn drücken und kneten. Bis du merkst: Da lockert sich was.

Wie lösen sich Lebensknoten?

Wenn es nur immer so leicht ginge. Es gibt Knoten im Leben, die lassen sich schwer lösen. Die sind verworren und festgezogen. Was ist mit denen?

Musik

Die Geschichte der Großmutter

Es gibt Knoten, die sind schwer zu lösen. Meine Oma wusste das. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war sie eine junge Frau. Während des Krieges wurde sie Mutter eines kleinen Sohnes. Den hat sie ganz alleine aufgezogen. Denn ihr Mann, mein Opa, war als Soldat an der Front. Gegen Ende des Krieges wurde er gefangen genommen. Er kam in Kriegsgefangenschaft nach Russland. Jahre vergingen. Oft wusste meine Oma nicht, ob ihr Mann noch am Leben war.

Krieg, Gefangenschaft, Wiederkehr

Hin und wieder gab es Briefe. Zarte Verbindungsfäden über tausende Kilometer hinweg, die immer wieder abrissen. Erst zehn Jahre nach Kriegsende kam mein Opa nach Hause. Sein Sohn war schon fast erwachsen. Sohn und Vater erkannten sich nicht wieder.

Auch meine Oma hatte sich verändert. Sie war nicht mehr die junge Frau, die mein Opa kennen und lieben gelernt hatte. Sie war eigenständig. Hatte den Krieg und eine Flucht überlebt, für sich und für ihren Sohn gesorgt. Eine alleinerziehende, berufstätige Mutter. Aber am meisten verändert hatte sich mein Opa. Der Krieg und die Gefangenschaft hatten an Leib und Seele Spuren hinterlassen.

Es braucht Geduld zum Entwirren

Mit viel Geduld haben meine Großeltern ihre Ehe damals wiederaufgenommen. Die Knoten, die durch die vielen schweren Erfahrungen entstanden waren, behutsam angeschaut. Sie hin- und hergedreht. Was lässt sich lösen? Wo muss Luft ran? Und auch: Welche Verhärtung und Verwicklung müssen wir erstmal ruhen lassen? Meine Großeltern haben das Band ihrer Ehe aufgedröselt. Knoten für Knoten. So gut es ging. Und wie beim Geschenkband, das nie wieder ganz neu wird, blieben Abdrücke dieser Knoten für den Rest ihres Lebens sichtbar. Trotzdem haben sie an ihrer Liebe festgehalten. Warum sollte man etwas so Schönes auch wegwerfen.

Und was, wenn der Knoten unlösbar ist?

Ich bewundere es, wenn Menschen das gelingt. Aber ich weiß auch, es gibt harte Erfahrungen, die nicht aufgehen. Die nicht lösbar sind. Maria, die Mutter Jesu, hat das erlebt. Ich habe von ihrem Bild erzählt als große Knotenlöserin. Doch was Maria an Karfreitag miterleben musste, konnte sie nicht lösen. Karfreitag, der Tag, an dem ihr Sohn Jesus starb. Maria musste zusehen, wie er getötet wurde. Auf schreckliche Weise ans Kreuz genagelt. Sie hatte keine Wahl. Sie konnte nicht helfen. Nur da sein. An seiner Seite. Den Knoten aus Angst, Wut und Verzweiflung und tiefer Trauer aushalten.

Lösungen gibt es nicht immer. Aber Lockern und Lindern geht. 

Persönlich habe ich so etwas Schreckliches noch nicht erlebt. Aber ich fühle auch Wut und Verzweiflung im Bauch, wenn ich in die Ukraine blicke. Dort sterben Menschen. Männer, Frauen und Kinder. In einem unsinnigen Krieg. Hilflos wünsche ich mir, der Knoten aus Macht und Gewalt würde sich lösen. Ein für alle Mal. In der Ukraine und auf der ganzen Welt. Ich wünschte, solche Knoten könnten durchgeschlagen werden. Und weiß doch, das passiert so nicht. Doch selbst bei diesen allerschlimmsten Erfahrungen gibt es etwas, was mehr ist als Nichts. Die Politik und die freien Gesellschaften stehen mit ihren Mitteln an der Seite der Überfallenen. Aber auch ich kann etwas beitragen. Vielleicht nicht zur Lösung des Knotens, aber zum Lockern und Lindern.

Musik

Was Leute hier für die tun, die aus der Ukraine fliehen konnten 

Viele Menschen versuchen zurzeit, den vom Krieg geflohenen Frauen, Kindern und alten Menschen ihr Schicksal etwas zu erleichtern. Eine Freundin von mir hat zwei junge Frauen bei sich aufgenommen. Sie hatte ein freies Zimmer zur Verfügung. Ich kenne Menschen, die den geflüchteten Kindern Deutschunterricht geben. Mit ihnen Sport machen oder einen kleinen Ausflug. Damit ein bisschen Ruhe und Normalität in das Leben der Kinder zurückkehrt. Andere sammeln Spenden oder fahren dringend benötigte Medikamente an die Grenze. Viele demonstrieren für Frieden und Freiheit.

Das Band des Lebens

Spuren und sogar Narben werden bleiben, aber das Band des Lebens geht weiter. Mir hilft das. Auch bei den Lebensknoten, die es in jedem Leben und auch im Frieden gibt. Wenn sich das Lebensband verknotet, bin ich Gott sei Dank damit nicht allein. Ich kann andere um Hilfe bitten. Wie meine Kinder mich. Andere um Hilfe bitten, dazu haben auch Erwachsene das Recht.

Sprechen und die Fäden aufnehmen

Ich denke an die vielen Lebensknoten von meiner Oma meinem Opa durch ihre Kriegs- und Gefangenschafts-Erfahrungen. Die haben das auch nur zusammen geschafft. Der Anfang vom Knotenlösen gelingt oft schon in einem Gespräch. Manchmal lösen sich Missverständnisse schnell in Luft auf. Wenn nicht, dann ist wenigstens der Faden wiederaufgenommen. Selbst wenn es länger dauern sollte, etwas zu entknoten.

Gott, du siehst meine Wege. Auch die verschlungenen. 

Hilfe finde ich auch in meinem Glauben. Dabei bin ich in guter Gesellschaft. Das tun Menschen schon seit Jahrtausenden, wenn sie beten: "Gott, du kennst mich genau. Ob ich sitze oder stehe, du weiß es. Du siehst alle meine Wege. Nichts an mir ist dir unbekannt. Alles was war, was ist, was sein wird, ist in dein Buch geschrieben. Ich danke dir, Gott, und staune, dass ich so wundervoll geschaffen bin." (Psalm 139)

Das Leben ist gut. Auch mit den Knoten.

Gott nimmt sich der Menschen an. Mit ihren Knoten, mit den Knicken und Spuren und Narben. Er bewahrt alles auf und wird auch Knoten lösen, an denen Menschen scheitern. Gott bewahrt das Band des Lebens. Warum sollte er etwas so Schönes auch wegwerfen?

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