Beitrag anhören:
Sich verSöhnen - keine Frage der Moral, sondern...
Bildquelle: pixabay

Sich verSöhnen - keine Frage der Moral, sondern...

Stefan Herok
Ein Beitrag von Stefan Herok, katholischer Pastoralreferent i.R. in der Pfarrei St. Bonifatius, Wiesbaden
Beitrag anhören:

Guten Morgen und einen schönen Sonntag!

Wieder so ein Tagesbeginn, an dem ich hin- und hergerissen bin zwischen dem Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine und der Sehnsucht nach Sonntagsruhe und Normalität. Ich halte mich nachrichtenmäßig auf der Höhe der Zeit, suche aber auch immer wieder einmal Abstand und praktisches Tun. Ich muss einfach ab und zu dem Ohnmachtsgefühl entkommen, dass wir kaum anderes tun können, als Geld zu spenden und ansonsten dem Drama zuzuschauen.

Träumen von der Zeit nach dem Krieg

Zu meinen kleinen Realitätsfluchten gehört auch eine VorwärtsFantasie: Ich träume mich hinüber in eine Zeit nach dem Kriegsende. Dort habe ich mich schon öfter gefragt, ob zwischen diesen beiden „BruderLändern“ nach dem gewaltsamen Übergriff jemals wieder Versöhnung möglich sein wird.

Eine berühmte Bibelgeschichte

Und als hätte ich es bestellt, trifft auf diese Frage am heutigen Sonntag in den katholischen Gottesdiensten aller Welt eine wirklich so berühmte wie passende Bibelgeschichte. Es geht darin tatschlich um „Versöhnung“. (Und sie könnte den Eindruck erwecken, sie sei ganz direkt auch für die Entstehung dieses Begriffes mitverantwortlich.) Die Beziehungen eines Vaters und seiner beiden Söhne zueinander drehen sich um die Frage, ob ihnen VerSöhnung gelingt. Ins kollektive Gedächtnis des Abendlandes hat sich die Geschichte unter dem Titel „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“ (Lukas 15,11-32) eingegraben. Für mich keine passende Überschrift. Es geht nämlich ums Finden, nicht ums Verlieren. Bei mir heißt diese Geschichte: „Das Gleichnis vom Vater, der sich gefunden hat…“

Wer ist eigentlich der „verlorene Sohn“?

Jesus erzählt den Außenseitern und Verachteten, die ihm gerne zuhören, Geschichten über Gott, die ihnen Mut machen. In seinem Gleichnis hat ein reicher Bauer zwei Söhne. Der ältere macht brav seinen Job im väterlichen Betrieb. Der jüngere lässt sich sein Erbe auszahlen und sucht das Weite. Er will endlich etwas erleben und stürzt sich in wilde Exzesse. So hat er sein Geld bald durchgebracht. Als er sich auch mit miesesten Jobs nicht mehr über Wasser halten kann, kehrt er reumütig heim. Er will am Hof seines Vaters wenigstens als Hilfsarbeiter unterkommen. Sein Vater ist aber so froh über seine Heimkehr, dass er ihn wieder in seine vollen SohnesRechte einsetzt, die der eigentlich verspielt hatte. Und er feiert für ihn ein riesen Fest; das Teuerste ist dabei gerade gut genug. Als der brave, angepasste, ältere Sohn davon hört, wird er stinksauer. Der Vater versucht ihn versöhnlich zu stimmen: „Du bist doch immer bei mir! Und wenn sich jemand Verlorenes wiederfindet, dann muss man sich doch freuen!“ Aber der Vater kann ihn offensichtlich nicht umstimmen. Ob er schließlich noch am Fest für den Bruder teilnehmen wird, das lässt die Geschichte offen…

Da stellt sich mir schon die Frage: Wer ist hier nun eigentlich der „verlorene Sohn“?

Die Geschichte ist nicht so glatt…

Gleichnishaft möchte Jesus erzählen, was wir von Gott erwarten können. Und er schildert die Bedingungen für menschliche Versöhnung. Aber Vorsicht, diese Geschichte ist nicht so glatt, wie man vielleicht meinen könnte und wie Generationen von Predigern sie früher ausgelegt haben. Folgt man denen, dann haben in unserer Geschichte nämlich nur die beiden Söhne Probleme: Der jüngere muss, gegen seine als sündig erkannte Lebenssehnsucht, ins väterliche System zurückkehren. Der ältere soll, gegen sein verletztes Gerechtigkeitsgefühl, Vergebungsbereitschaft zeigen. Vom Vater in der Geschichte, für mich oft vorschnell mit Gott gleichgesetzt, wird nichts erwartet. Die Versöhnungsperspektive dieser Auslegung ist zweifach, aber doch zu simpel: Wir müssen entweder – wie der jüngere - reumütig umkehren oder - wie der ältere – um jeden Preis versöhnungsbereit sein. Umkehr und Versöhnung erscheinen als moralisches Muss, als ethische Pflicht.

So wird Versöhnung kaum möglich

Ob sich damit Versöhnungsperspektiven für die Konflikte unserer Zeit öffnen lassen? Ich glaube eher nicht. Ukrainer und Russen sind alte Brudervölker. Nun hat Putin eine Staatsvernichtung befohlen, praktiziert aber tatsächlich Brudermord. Die russischen Kriegstreiber lassen sich, wie man leider sieht, nicht mit moralischen Apellen zur Umkehr bewegen. Die Ukrainer werden, nach diesen Opfern, nicht so einfach Versöhnungsbereitschaft zeigen können. Nein, mir erzählt diese Bibelgeschichte tatsächlich etwas anderes über die Bedingungen von Versöhnung…

Beide Söhne reagieren auf die strenge Vaterwelt

Für mich ist der Vater, von dem hier erzählt wird, nicht sofort mit Gott gleichzusetzen. Es ist erst mal ein ganz normaler Vater. Ich sehe ihn viel ursächlicher mit den Problemen seiner Söhne verknüpft. Warum will denn der jüngere weg und sucht das freie Leben? Und warum ist der ältere so verstockt? Als klassische Familiengeschichte deute ich es so: Beide reagieren damit auf die freudlose, arbeitsfixierte und prinzipienstarre Vaterwelt. Beim jüngeren Sohn ist die Sehnsucht nach Freude und Freiheit ja offensichtlich. Aber auch der ältere Sohn sagt es ausdrücklich. Als der Vater ihn besänftigen will, reagiert er aufgebracht: „Ich habe nie deine Gebote übertreten und doch hast du mir nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern könnte“. Mich erinnert die Szene an viele Familiengeschichten, die ich aus meinem SeelsorgeAlltag kenne…

Auch der Vater muss sich verändern

Woher kommt dann aber die Versöhnungsbereitschaft? Beim jüngeren Sohn ist es wieder klar. Dem gehen im Exzess die Augen auf, welches Leben er wirklich sucht. Und die Art von Freiheit, die er kostet, wird ihm bitter. Das ermöglicht ihm die Umkehr. Aber auch der Vater muss sich erst verändern. Als klassische Familiengeschichte, so stelle ich es mir vor, wird er den Sohn, der sich gegen ihn für die Freiheit entschied, zunächst verstoßen und verurteilt haben: „Der ist nicht mehr mein Sohn. Der ist für mich gestorben! So viel Undankbarkeit, wo ich doch das alles nur für meine Kinder getan habe!“

Erst dann findet er sich als liebevoller Vater

Erst als der jüngere Sohn länger weg ist und der Vater ihn in stillen Stunden ganz langsam zu vermissen beginnt, da erweicht sein Herz. Da öffnet sich sein Blick: Wer ist mein Sohn wirklich für mich? Muss er nur einen Zweck erfüllen und meine Erwartungen als perfektes väterliches Abbild, als familiäre Arbeitskraft, als Erbe? Vielleicht versteht er sogar allmählich, dass der Junge auch wegen ihm abgehauen ist, weil das Leben bei ihnen wirklich zu streng, zu eng und so freudlos war. „Mein Sohn, der tot war, lebt wieder!“ Was für ein starker Schlüsselsatz der väterlichen Selbsterkenntnis! Hier überwindet er – so jedenfalls meine Deutung - seine eigene Lebensverneinung und findet sich selbst als liebevoller Vater. Da erst, als er den Sohn um seiner selbst willen annehmen kann, da beginnt seine neue Offenheit für den Jungen und seine Versöhnungsbereitschaft.

Der ältere Sohn braucht noch Zeit

Die möchte er jetzt auch seinem älteren Sohn anbieten. Aber der ist noch nicht so weit. Der kann noch nicht fassen, dass sich hier wirklich etwas grundlegend verändert hat und endlich Liebe einzieht in die Beziehungen. Noch kann er dem Ende von Prinzipienstrenge und Zweckbindung nicht trauen. Darum ist es gut, dass die Geschichte offen endet. Sie lässt dem älteren Bruder Zeit, dass auch sein Herz nachkommen und sich – vielleicht – der Versöhnung öffnen kann.

Eine Frage der Liebe

Die gesamte Geschichte ist ein GottesGleichnis, nicht nur die der Vaterfigur. Und sie lehrt mich: Umkehr und Versöhnung funktionieren nicht über moralische Imperative. Man muss hier gar nichts. Beides gibt es nur, wenn das Herz in Bewegung kommt. Umkehr und Versöhnung sind keine Fragen der Moral, sondern der Liebe.

Was bedeutet mir mein Bruder wirklich?

Ob, wann und wie bei Herrn Putin das Herz in UmkehrBewegung kommt, scheint eine äußerst schwierige Frage… Und die Menschen in der Ukraine, bei ihnen geht es leider noch nicht um Versöhnungsbereitschaft, sondern ums pure Überleben.

So nutze ich heute meine SonntagsRuhe für ein Gebet. Die LiebesFrage: Was bedeutet mir mein Bruder wirklich? Möge bitte in den Herzen aller Beteiligten eine Chance bekommt! (Amen.)

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren