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Wüstenzeiten des Lebens
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Wüstenzeiten des Lebens

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Vor drei Jahren war ich in Israel und Palästina unterwegs. Ich habe eine Freundin besucht, die zu der Zeit in Jerusalem lebte. Von Jerusalem aus haben wir auch einen Tagesausflug in die Wüste unternommen.

Die Wüste - wenig einladend sich niederzulassen

Die Straße aus der Stadt führte in vielen Kurven ins Tal. Eine glatte, ganz neu asphaltierte Straße, die sich gut fahren ließ. Ich saß auf dem Beifahrersitz und schaute aus dem Fenster. Die Stadt lag hinter uns. Die Häuser mit den flachen Dächern und die Zypressen wurden immer weniger. Bald flog eine Landschaft aus brauner Erde und Geröll vor meinen Augen vorbei. Wenig einladend, sich hier niederzulassen.

Auf einem Hügel sah ich einen Hirtenjungen, umgeben von Schafen und Ziegen. Wie der wohl so lebt in dieser kargen Gegend allein mit sich und den Tieren? Je weiter wir in die Wüste hineinfuhren, desto mehr dachte ich darüber nach, wie das Leben hier ist: trocken, steinig und ziemlich anstrengend.

Die Pandemie ist wie eine Wanderung durch eine Wüste, ohne zu wissen, wo und wann sie zu Ende ist

Ich denke heute nochmal anders an diesen Ausflug in die Wüste, weil mir die Pandemie vorkommt wie eine Wüstenzeit. Das Leben ist karger geworden durch die Einschränkungen. Und es hat Herausforderungen, die ich vorher nicht kannte. Gerade mit Kindern ist der Corona-Alltag anstrengend: Jeden Morgen bekomme ich die Meldungen im Gruppenchat, welche Kinder aus der Klasse einen positiven Test haben. Und am Nachmittag kommen murrende Kinder nach Hause, die vom Maske-Tragen erschöpft sind.

Die Pandemie ist für mich wie eine Wanderung durch eine Wüste, ohne zu wissen, wo und wann sie zu Ende ist. Heute Morgen denke ich nach über Wüstenzeiten des Lebens.

Ich erzähle Ihnen von Miriam, einer Frau aus der Bibel, die einen Großteils ihres Lebens in der Wüste verbracht hat. Und ich erzähle von Helga, einer Frau, die ihre Kindheit wie eine Wüstenzeit erlebt hat. Wie sind diese beiden Frauen damit umgegangen? Was hat ihnen Kraft gegeben?

Musik

Wüstenzeiten. Das sind Zeiten, die mich auslaugen und mir Kräfte rauben. In denen mir das Leben trocken und leer vorkommt.

In der Bibel gibt es viele Erzählungen von Menschen, die durch die Wüste müssen

In der Bibel gibt es viele Erzählungen von Menschen, die durch die Wüste müssen. Der Sandsturm bläst ihnen scharf ins Gesicht, und sie fühlen sich kraftlos und allein. Besonders in Wüstenzeiten sagt Gott: Ich verlasse dich nicht. Ich bin an deiner Seite.

In der Bibel steht: „Gott hat dein Wandern durch diese große Wüste auf sein Herz genommen. Vierzig Jahre ist Gott bei dir gewesen. An nichts hast du Mangel gehabt.“ (5. Mose 2,7)

Dein Wandern durch diese große Wüste. Da höre ich: Die Krise wird nicht klein geredet. Gott nimmt sie „auf sein Herz“. Gott nimmt ernst, was mir zu schaffen macht. Das hilft schon mal: Jemand sieht, wie es mir geht.

Der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten

Dieses Bibelwort erinnert an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und danach an seine Wanderung vierzig Jahre lang durch die Wüste. In Ägypten wurden die Israeliten als Sklaven gehalten. Sie mussten für den Pharao ganze Städte bauen: Steine schleppen, Wasser holen, in sengender Hitze Gerüste bauen. Solange, bis die Israeliten dagegen aufbegehrt haben: So kann das Leben doch nicht sein. Etwas muss sich ändern!

40 Jahre wandert das Volk Israel durch die Wüste

Ihr Anführer Mose sagte zum Pharao: Lass mein Volk ziehen! Und tatsächlich, mit Gottes Hilfe haben sich die Israeliten aus der Sklaverei befreit und sind losgezogen. Miriam, die Schwester von Mose war bei diesem Aufbruch dabei. Zusammen ziehen die Israeliten in die Freiheit – und landen in der Wüste.

Sollte das die Befreiung sein? 40 Jahre ist das Volk Israel durch die Wüste gewandert. Als sie losgingen, wussten sie nicht, wie lange sie unterwegs sein würden. Einige sind gestorben, bevor sie das gelobte Land erreicht haben. Auch Miriam hat das nicht mehr erlebt. Ein neues Zuhause für sich, ihre Kinder und Enkel blieb für sie nur ein Traum. Sollte Miriam im Rückblick sagen: „Mein Leben war nicht lebenswert, nur wegen der äußeren Umstände?“

Was macht mein Leben überhaupt lebenswert in dieser Corona-Wüstenzeit?

Ich ertappe mich bei diesem Gedanken. Denn oft denke ich gerade jetzt: Was macht mein Leben überhaupt lebenswert in dieser Corona-Wüstenzeit? Seit zwei Jahren keine sorglosen Reisen oder Abendessen in großer Runde. Kommt das je wieder?

Miriam und ihr Volk haben in der Wüste Gottes Nähe erlebt

Miriams Leben war kein verlorenes Leben. Denn das Leben in der Wüste war ihrLeben. Im Rückblick war es sogar eine Zeit, in der Gott besonders nahe war. Gott hat sie versorgt, hat sie immer wieder Nahrung finden lassen und Wasser aus Felsspalten. Miriam und ihr Volk haben Gottes Nähe erlebt – mal in großen Wundern, mal in kleinen Momenten. Sie haben in der Wüste nicht nur darauf gestarrt, was schlecht ist. Sondern sie haben geschaut: Wo erleben wir Segen auch mitten in der Wüste?

In der Bibel steht: „Dein Gott hat dich gesegnet in allen Werken deiner Hände. Er hat dein Wandern durch diese große Wüste auf sein Herz genommen. Gott ist bei dir gewesen. An nichts hast du Mangel gehabt.“

Ein Gespür für Segen in Wüstenzeiten. Das finde ich in der Bibel. Das brauche ich, wenn mir mein Leben trocken und schwer vorkommt.

Musik

Gott geht immer mit

Gott begleitet das biblische Volk Israel auf dem Weg durch die Wüste. Bei Nacht und bei Tag, bei stürmischem Wetter und großer Hitze: Immer geht Gott mit. In der Bibel steht: „Gott hat dein Wandern durch diese große Wüste auf sein Herz genommen.

Für Helga war ihre Kindheit, wie eine große Wüste

Wie eine große Wüste, so hat Helga ihre Kindheit erlebt. Vom Alter her könnte sie meine Mutter sein. Sie erzählt mir, wie es früher bei ihr zuging. Mangel an Essen gab es nicht. Im Gegenteil. Ihr Vater hat sie mit Essen gequält. Er hat ihr immer doppelt so viel auf den Teller geladen wie ihren kleinen Geschwistern. Er hat sie gezwungen, alles aufzuessen.

Helga erzählt: „Ein Mittagessen mit Rotkraut und Kartoffelbrei. Mein Vater wusste, dass er mich damit demütigen konnte. Ich durfte nicht aufstehen, bevor der ganze Teller leer war.“ Das war nur eine der Methoden, mit denen der Vater seine Tochter seelisch unter Druck gesetzt hat.

Gott als Mutter

Helga überlegt: „Soll ich sagen, mein Leben ist verpfuscht wegen meiner verlorenen Kindheit?“ Sie schüttelt den Kopf und sagt: „Mir hat geholfen, mir Gott als Mutter vorzustellen: zugewandt und verständnisvoll. Ich wusste: Gott ist bei mir, auch in den dunkelsten Stunden.“ Für sie hören sich die Sätze aus der Bibel so an: „Die Ewige, dein Gott, hat dein Wandern durch diese große Wüste auf ihr Herz genommen. Dein Gott ist bei dir gewesen.“

Helga hat sich von ihrer Familie abgewendet. Auch zu ihren Geschwistern hat sie keinen Kontakt mehr. So richtig innerlich befreit hat sie sich erst, als sie ihren jetzigen Mann kennenlernte.

Die innere Befreiung durch einen liebevollen Mann

Sie erzählt: „Ich kenne keinen liebevolleren Menschen als ihn. Wir leben jetzt 20 Jahre zusammen. Viele Wunden meiner Kindheit konnten heilen. Er kocht leidenschaftlich gern. An Rotkraut und Kartoffelbrei wage ich mich zwar immer noch nicht heran. Aber ich kann jedes gemeinsame Abendessen mit ihm genießen.“

Nach den Oasen des Lebens schauen

Sie sagt weiter: „Ich habe begonnen, mein Leben nicht mehr nur von dem trockenen, dürren Land her zu sehen. Ich habe angefangen zu schauen, welche Oasen es in meinem Leben gibt, was mich freut und lebendig macht.“

Ich bewundere Helga. Sie hat hart an sich gearbeitet, um nicht zu verbittern, das spüre ich in jedem Satz.

In der Pandemie nicht nur auf das schauen, was fehlt, sondern nach dem, was stärkt

Von Helga und von Miriam in der Bibel lerne ich: In den Wüstenzeiten des Lebens will ich nicht schauen auf das, was fehlt. Ich muss den Mangel an sozialen Kontakten in der Pandemie nicht immer wieder betonen. Darunter leiden viele – ich bin also nicht allein damit. Ich möchte nach den Oasen Ausschau halten. Nach dem, was mich erfrischt und mir Kraft schenkt.

Im Rückblick merke ich zum Beispiel, dass wir mit unseren Kindern in den vergangenen Monaten der Pandemie viel mehr Ausflüge gemacht haben als vorher. Wir haben die Jahreszeiten intensiver wahrgenommen, im Herbst die Laubfärbung genossen. Und jetzt feiern wir jedes erste kleine Grün, jedes Schneeglöckchen, das schon aus der Erde hervorlugt.

Schöne Momente bewußt wahrnehmen, ist ein Segen

Mir tut es gut, solche Momente bewusst wahrzunehmen. Das kann wie bei mir ein Ausflug in die Natur sein oder ein gemütliches Sonntagsfrühstück. In Zeiten, die innerlich an die Substanz gehen, ist das für mich ein Segen.

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