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Friede zwischen den Religionen
Bildquelle: See Genezareth

Friede zwischen den Religionen

Helmut Schlegel
Ein Beitrag von Helmut Schlegel, Franziskanerpater, Exerzitienbegleiter und Geistlicher Begleiter, Frankfurt
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Musikauswahl (CD: Giora Feidman Trio, „Klezmundo“): Ricarda Moufang

Auf meinem Schreibtisch liegt ein Foto von meinem Bruder Karl und mir auf einer Israelreise. Karl hatte als Landwirt während seiner Berufstätigkeit kaum Zeit zum Reisen. Als er dann in den Ruhestand ging, wollte er einen Herzenswunsch wahr machen: das Heilige Land besuchen. Ich sollte ihn begleiten. Es war eine sehr schöne Reise, auf der wir beiden Brüder viel Zeit füreinander hatten. Zum Glück lebte damals Hartwig, ein gemeinsamer Bekannter, in Israel. Er kannte dort fast jeden Winkel und sprach außerdem ganz passabel Hebräisch und Arabisch. Mit ihm konnten wir Orte besuchen, die den Touristen in der Regel verborgen bleiben. Und durch ihn kamen wir mit vielen Einheimischen ins Gespräch: mit Juden, Arabern und Palästinensern.

Ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Religionen

Hartwig führte uns eines Tages nach Nablus, einer Stadt im Westjordanland mit rund 150.000 Bewohnerinnen und Bewohnern. Hier leben Muslimas und Muslime neben Christinnen und Christen, außerdem etwa 400 Samaritanerinnen und Samaritanern. Sie bilden jene religiöse Gruppe, die schon zur Zeit Jesu existierte und als ihre Heilige Schrift nur die fünf Bücher Mose anerkennt. Im näheren Umkreis von Nablus liegen 14 israelische Siedlungen und zwei große palästinensische Flüchtlingslager. Ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Religionen.

Eine interreligiöse Gedenkstätte erinnert an „Glaubensvater“ Josef

Wir befanden uns auf biblischem Boden. Nach der Überlieferung kaufte der israelitische Stammvater Jakob hier ein Grundstück, das er an seinen Lieblingssohn Josef vererbte. Dieser fand hier seine letzte Ruhestätte. Bis heute erinnert eine interreligiöse Gedenkstätte an Josef, sowohl Menschen muslimischer als auch jüdischer und christlicher Religionszugehörigkeit verehren Josef als einen der großen Väter ihres Glaubens.

Musik: Nr. 7 „My bird, this is your song“

Hinabgestiegen zum Jakobsbrunnen

 Auf unserer Pilgerfahrt nach Israel und Palästina haben mein Bruder und ich damals - ganz in der Nähe der Stadt Nablus - den so genannten Jakobsbrunnen besucht. Dafür mussten wir in die Krypta der orthodoxen Sankt-Photina-Kirche hinabsteigen. Photina ist nach orthodoxer Überlieferung der Name der samaritischen Frau, der Jesus am Jakobsbrunnen begegnet ist. Davon erzählt das 4. Kapitel des Johannesevangeliums.

Hier traf Jesus die Samaritanerin Photina

Das Foto, das bei mir auf dem Schreibtisch steht, zeigt, wie mein Bruder Karl am Jakobsbrunnen versucht, die Handkurbel zu drehen und mit dem Eimer Wasser zu schöpfen. Es gelang nicht, der Brunnen ist sehr tief und führt heutzutage nur in der Winterzeit Wasser. Um uns zu erinnern, was an diesem denkwürdigen Brunnen geschehen ist, holte Hartwig seine Bibel aus der Tasche und las vor:

Jesus war müde von der Reise und setzte sich daher an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. Da kam eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! Seine Jünger waren nämlich in die Stadt gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen. (Joh 4, 6-8)

Entgegen der damaligen Norm sprachen sie offen miteinander

Erstaunlich, unterbrach Hartwig, es widersprach der damaligen Norm, dass eine Frau mit einem jüdischen Rabbi sprach. Aber Jesus zeigte sich ihr gegenüber völlig unbefangen. Und auch sie sprach offen von ihren Lebens- und Glaubensfragen. Der Evangelist schreibt weiter:

„Die Frau sagte zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss. Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden.“ (Joh 4, 19-22)

Das Heil kommt von den Juden

An dieser Stelle blieben wir hängen. Das Heil kommt von den Juden? Nicht von Christus? Nicht von der Kirche? Ja, sagte Hartwig, das Heil kommt von den Juden. So sagt es Jesus selbst. Und damit zeigt er ganz deutlich: Er war ganz und gar Jude.

Er hielt am Glauben Abrahams fest. Er stand in der Tradition von Mose und den Propheten. Und er wollte im Grunde nichts anderes, als diesen Glauben an den Gott der Mütter und Väter auf seinen Ursprung zurückführen.

Musik: Nr. 6, „Luy Yhi“

Judentum, Islam und Christentum haben gemeinsame Wurzeln

Seit jener Pilgerreise nach Israel, auf der wir auch den Jakobsbrunnen bei Nablus besuchten, wurde mir mehr und mehr bewusst: Die so genannten abrahamischen Religionen - Judentum, Islam und Christentum - leben aus einer starken gemeinsamen Wurzel. Es ist der Glaube an den einen Gott, der Abraham und seine Frau Sara lockte, aufzubrechen. Im ersten Buch Mose wird dieser Glaube skizziert:

“Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich werde segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den werde ich verfluchen. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen. Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte,“ (1 Mos 12,1-4a)

Im Aufbruch steckt das Wort Bruch

Das Wort „aufbrechen“ finde ich häufig in der Bibel. Es meint viel mehr als eine Reise machen. Im Aufbruch steckt das Wort Bruch. Für Abraham und seine Frau Sara war der Aufbruch der schmerzliche Abbruch all dessen, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte: die vertraute Landschaft, die gewohnte Sprache, ihre Viehherde und ihre Verwandtschaft. Das alles sollten sie verlassen und anderswo neu anfangen.

Das Neue beginnt mit manch' schmerzhaftem Bruch

Die großen und kleinen Aufbrüche gehören zu meinem Leben wie atmen und essen. Das ist so seit meiner Geburt. Das Kind bricht den bergenden Mutterleib auf. Schmerzlich für beide - für die Mutter in ihren Wehen und für das Kind, das hinausgestoßen wird in eine kalte Welt. Da kann das kleine Wesen nur eines: schreien. Den ganzen Schmerz dieses Bruchs in die Welt hinausschreien. Aber das genau ist seine Rettung. Das Kind ringt nach Luft und beginnt zu atmen. Das Neue beginnt.

Wir sind alle Kinder Gottes

Es wundert nicht, dass „Aufbruch“ ein religiöses Grundwort ist. Es wundert auch nicht, dass die Erfahrung der Geburt unser religiöses Denken und Fühlen prägt. Nicht ohne Grund sprechen fast alle Religionen von Mutter oder Vater, wenn sie Gott meinen. Und von Brüdern und Schwestern, wenn sie die Menschen meinen. Ganz klar: unsere Erfahrungen mit Mutter, Vater und Geschwister sind sehr verschieden, manche gut, manche schlecht. Und diese Erfahrungen färben auch unsere Gottes- und Menschenbilder ein. Manche sind hell und bunt, andere dunkel und trist. Und doch gilt: Wir sind alle Kinder des einen Gottes. Wir sind Geschwister mit denselben Rechten und derselbe Würde - ganz gleich, welche Sprache wir sprechen, in welchem Land wir leben und welcher Kultur wir angehören. Keine Religion darf sich exklusiv als die einzig wahre verstehen.

Musik: Nr. 15 „Bis Hundertzwanzig“

Geschwister entfernen sich manchmal voneinander

Geschwister unterscheiden sich. Da brauche ich nur an meine eigene Familie zu denken: wir vier Geschwister sind grundverschieden an Alter, Geschlecht, Beruf, Lebensart und in vielen anderen Bereichen. Geschwister können sich auch auseinanderleben. Bis hin zu lebenslangen Feindschaften. In meinem näheren Bekanntenkreis habe ich erlebt, wie sich zwei Geschwister zerstritten haben und seit Jahren kein Wort mehr miteinander sprechen. Warum? Wegen des Erbes. Beide haben das Gefühl: Ich wurde von meiner Schwester, von meinem Bruder über den Tisch gezogen. Niemand kann vermitteln. Dabei leiden beide entsetzlich an dieser Feindschaft.

Zueinander finden, statt ausgrenzen

Sind Religionen zerstrittene Geschwister? Zerstritten wegen des Erbes? Hat uns der Glaube, den uns Gott anvertraut hat, auseinander dividiert? Es kann nicht geleugnet werden: Die Religionen haben im Umgang miteinander große Schuld auf sich geladen. Ich denke dabei nicht nur an den militanten Islamismus. Ich denke auch an die eigene Kirche. Bis heute stehen hinter wichtigen Glaubenssätzen der katholischen Kirche zwei böse Worte: Anathema sit. Auf Deutsch: Verflucht sei, wer anders glaubt. Dafür schäme ich mich. Und nicht nur dafür. Auch für den offenen oder verdeckten Antisemitismus. Für die Islamfeindlichkeit, die sich oft mit einem religiösen Mäntelchen umhüllt. Dabei wird der friedliche Islam in einen Topf geworfen mit den Aktionen der Gotteskrieger. Ich schäme mich für eine Politik, die mit Berufung auf das christliche Abendland Fremdenfeindlichkeit schürt. Unser Jahrhundert hat die Aufgabe, jede Form von Kultur- und Religionsfeindlichkeit aufzuarbeiten und das Gift der Ausgrenzung zu bekämpfen. Gemeinsam. Ganz gleich, ob wir jüdisch, muslimisch, hinduistisch, buddhistisch, humanistisch oder christlich denken und glauben.  

Musik: „Nokh a par Teg“

Papst und Großimam unterzeichnen ein Dokument für ein friedliches Miteinander

Es war eigentlich ein spektakuläres Ereignis, als Papst Franziskus im Februar 2019 Abu Dhabi besuchte und zusammen mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyib aus Kairo das Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt unterzeichnete. Das Dokument wurde bis zuletzt geheim gehalten, aus Angst vor Sabotage und Anschlägen von Extremisten. Umso mehr erstaunt es, dass dieses Dokument weitgehend unbekannt geblieben ist. Der entscheidende Satz des Dokumentes heißt: „Der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache entsprechen einem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat.“ Das klingt nicht revolutionär. Aber auf dem Hintergrund der bisherigen Religionsgeschichte sind dies neue Töne. Sowohl für den Islam als auch für die katholischen Kirche - hatten sie doch jahrhundertelang in Sachen Wahrheit den Alleinvertretungsanspruch erhoben und den Pluralismus verteufelt. 

Den Reichtum anderer Religionen hautnah erfahren

Ich persönlich bin sehr froh darüber, dass ich den Reichtum anderer Religionen hautnah erfahren durfte. Es war in der Zeit, als unsere franziskanische Bruderschaft in einem Frankfurter Hochhaus gelebt haben. Da haben Menschen aus muslimischen, hinduistischen und christlichen Glaubensgemeinschaften unter einem Dach gewohnt. Hin und wieder haben wir Franziskaner unsere Nachbarn eingeladen. Gerne haben wir uns auch einladen lassen. Nicht selten kam das Gespräch auf religiöse Fragen. Ich habe vieles von unseren Nachbarn gelernt: wie sie leben, wie sie ihren Glauben im Alltag praktizieren, welche Gottesbilder sie haben, wie sie beten. Manchmal haben wir auch gemeinsam gebetet. Ganz gleich, ob mit gefalteten oder erhobenen Händen, ob in Deutsch oder einer anderen Sprache, ob zu Allah oder dem Ewigen oder einfach zu Gott: das gemeinsame Beten hat uns verbunden.

Musik: „Thanks to the Lord of Lords“

Das Dorf Nes Ammim verändert seine Besucher

Ich komme noch einmal zurück auf die Reise nach Israel, die mein Bruder und ich unternommen hatten. Am Ende durften wir erfahren, wie ein versöhntes Miteinander der verschiedenen Religionen aussehen kann. Unser Begleiter Hartwig führte uns in das kleine Dorf Nes Ammim. Der Name bedeutet „Zeichen der Völker" oder auch „Zeichen für die Völker“. Die Geschichte des Anfangs von Nes Ammim klingt recht abenteuerlich. Eine Schweizer Familie kam 1963 mit einem ausgedienten Bus von Jerusalem und landete im Norden der Stadt Akkon auf einem kleinen Hügel. Der Traum von einem interreligiöses Friedensprojekt bewegte sie. Heute leben in Nes Ammim jüdische und arabische Familien mit einer christlichen Gemeinschaft von Freiwilligen aus ganz Europa zusammen. Sie bebauen das Land, pflegen den Dialog unter den Kulturen und veranstalten jährlich eine Reihe von Seminaren. Eines davon im Nachbarkibbuz, wo sich nach der Shoa Überlebende des Warschauer Ghettos angesiedelt hatten. Im Lauf der vergangenen Jahre kamen Tausende von Freiwilligen. Nach ihrem Aufenthalt in Nes Ammim kehren sie verändert in ihre Heimat zurück. Sie gehören zu denen, die aufstehen, wenn gegen Jüdinnen und Juden gehetzt wird oder wenn Hass gegen Muslimas und Muslime aufflammt. Und sie setzen sich aktiv für kulturelle und religiöse Verständigung ein. Einer dieser jungen Freiwilligen führte uns bei unserem Besuch durch das Dorf, und ganz am Schluss zeigte er uns das house of prayer. Ein lichter Raum. Kein Bild, keine Figur, kein religiöses Symbol. Nur ein kleine blaue Tafel an der Seite mit der Aufschrift:

Was ist die Schuld des Unschuldigen? Wo beginnt sie?
Sie beginnt, wenn er ruhig an der Seite steht und mit den Schultern zuckt.
Mit zugeknöpftem Mantel und glimmender Zigarette.
Hier beginnt die Schuld des Unschuldigen.

Die gemeinsamen Werte sehen, die uns zum Frieden führen

Wie gut, dass es Menschen gibt, die nicht an der Seite stehen und mit den Schultern zucken. Wie gut, dass es Initiativen gibt, in denen Menschen verschiedener Religionen sich miteinander für Verständigung und Frieden einsetzen. Mit großer Aufmerksamkeit habe ich gelesen: der Aachener Friedenspreis 2021 wird am 13. November unter anderem an eine interreligiöse Fraueninitiative aus Nigeria verliehen. Seit Jahren setzt sich diese in der Krisenregion Kaduna für ein gewaltfreies Zusammenleben zwischen Christ:innen und Muslim:innen ein. „Wir wollen nicht länger Opfer sein“ ist ihre Devise. Viele der Frauen mussten mitansehen, wie ihre Ehemänner und Kinder umgebracht wurden. Mit ihren Aktionen protestieren sie dagegen, dass ihre Religion für politische Zwecke missbraucht wird. Amina Kazaure, Leiterin des Gesamtprogramms, sagt: „Weder das Christentum noch der Islam unterstützen, dass Gläubige getötet, entmenschlicht oder erniedrigt werden. Wir haben gemeinsame Werte. Sie alle führen uns zum Frieden“.

Musik: „Der Lindenbaum“

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