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Ferienzeit – Momente der Stille genießen
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Ferienzeit – Momente der Stille genießen

Dr. Wolfgang Hartmann
Ein Beitrag von Dr. Wolfgang Hartmann, Spiritual im Priesterseminar, Fulda
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Vor ein paar Wochen habe ich mir einen Reiseführer gekauft. Endlich mal wieder auf große Fahrt gehen, die eigenen vier Wände verlassen, Koffer packen, Tür abschließen und den Freunden sagen: "Ich bin dann mal weg!" Es ist fast so, als hätte ich das in der zurückliegenden Zeit ganz verlernt. Allein schon bei dem Gedanken fühle ich mich frei, unbeschwert und habe große Lust, mal wieder was Neues zu entdecken. Die vielen Belastungen der vergangenen Monate fallen nur langsam ab. Corona sei’s geklagt.

Heute beginnen in Hessen die Sommerferien. Und vielleicht sind Sie ja schon auf dem Weg zu ihrem hübschen Fleckchen Erde, das Sie nun gern wiedersehen möchten oder es gibt ein neues, in das Sie Ihr Reiseführer gelockt hat. Bei Vielen werden sich in den nächsten Tagen ganz ähnliche Gefühle einstellen. Mal alles zurücklassen, den ganzen alltäglichen Wahnsinn, jedes bösartige Wort, jeden Streit. Das ist gar nicht so leicht. Auch im heutigen Sonntagsevangelium sind Jesus und seine Jünger an einer Grenze. Sie möchten endlich mal wieder ausschlafen, sehnen sich nach Stille und haben zu viel in ihren Alltag hineingepackt und sind total ausgepowert. Da hat Jesus die einzig richtige Idee. Er verordnet den Jüngern und auch sich selbst eine Auszeit. „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht euch ein wenig aus“ (Mk 6,11a), sagt er zu seinen Getreuen, als er spürt, dass nichts mehr geht. Haben wir nicht alle nach den schweren Zeiten des Lockdowns Sehnsucht nach einer solchen Auszeit? Einfach mal durchatmen dürfen, nichts mehr sehen und hören. Wohin aber zieht es uns Menschen, um jene Ruhe und Erholung zu finden, die wir in der sogenannten neuen Normalität so dringend brauchen?

Musik: J. Haydn – "Adagio Cantabile“ aus dem Streichquartett D-Dur op 64. Hob. III: 63

Sie haben sicherlich auch so eine Sammlung alter Urlaubsfotos. Ich schaue mir gerne immer mal wieder ein paar davon an, meist sogar dieselben, und merke jedes Mal, dass es mich oft zu ganz bestimmten Orten hinzog. Welche Bilder finden Sie in Ihrer Sammlung? Wohin sind Sie gefahren, um auszuspannen und sich’s gut gehen zu lassen? Darf ich Ihnen an dieser Stelle ein paar Gedanken mitgeben zu dem einen oder anderen Ort, der vielleicht auch Ziel Ihrer nächsten Reise sein könnte?

In meinem Album gibt es eine ganze Serie großartiger Abbildungen von Kathedralen und Kreuzgängen grandioser Architektur. Diese geschichtsträchtigen Orte haben eine ganz besondere Ausstrahlung. Es ist die Mischung aus dem Geheimnis Vergangenheit und jener Spur Unendlichkeit, der wir sonst so nicht nahekommen. Und das gilt auch für die einzigartigen Ergebnisse der Forschung in der Archäologie. Die deuten darauf hin, dass sowohl in Israel als auch in den umliegenden Regionen die Heiligtümer und Tempelanlagen nach ein und demselben Grundriss gebaut wurden: Von einem größeren Raum ist ein kleinerer abgetrennt, der dem Allerheiligsten gehört. Hier ehrt man den gegenwärtigen Gott durch Schweigen.

Das ist bis heute so. In bestimmten Bereichen von Tempeln und Kathedralen wird oft kein Wort gesprochen und dabei einer ganz alten Regel gefolgt, nach der die Menschen Gott am Ort seiner Gegenwart einfach wortlos nahe sein wollen. Weil er schweigt und das Schweigen ist! Vor ihm verstummt der Mensch. Wer solche Orte besucht, dem wird bewusst, dass es nicht einfach nur ums Verstummen geht, sondern ums Aushalten und Wahrnehmen der eigenen Befindlichkeit. Wir Menschen können unseren Willen nicht immer so beeinflussen, dass wir auch wirklich zur richtigen Zeit das Richtige tun. Schweigen zu können, wenn’s dran ist, bedeutet Selbstbeherrschung pur. Da ist oft der Wunsch der Vater des Gedankens! Was uns bedrängt auf Abstand halten, was uns ärgert, kleinreden, was uns aufregt, herunterkühlen, wem gelingt das immer? Stille ist ja, ich muss einfach sein! Der bekannte Jesuit Willi Lambert (siehe hierzu: W. Lambert, Exerzitien – das Leben beleben, Würzburg 2021, S. 25-26) schreibt über die Stille: "Geräusch muss man machen. Stille ist. Wenn das Laute leiser wird, sagt die Stille: Ich bin schon da."

Musik: Henry Vieuxtemps – "Andante" aus dem Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 F-Dur op. 19

Gern möchte ich Sie nun noch einmal entführen. Zu einem bestimmten Ort in den französischen Südalpen. Wir machen einen Abstecher zur Grand Chatreuse, der großen Kartause hoch oben in der absoluten Einsamkeit der Berge. Hier steht das Mutterkloster des berühmten Kartäuserordens, der sich ganz dem Schweigen verpflichtet hat. Noch bevor wir in die Nähe dieses Klosters kommen, ist der Weg durch einen Schlagbaum versperrt, auf dem in riesigen Buchstaben auf Französisch das Wort Stille steht. Ohne sie, ohne Schweigen pur gibt es dort kein Weiterkommen. Ist das nicht ein weiser Hinweis? Unverhohlen und deutlich: Time-out, wie man heute neudeutsch sagt: "Zeit aus - Mund zu - Punkt!" Auch Jesus hat seinen Jüngern so eine Auszeit verordnet. Kommt mit an einen einsamen Ort, ihr habt’s verdient. Wir brauchen uns auch mal ganz alleine. Und nicht nur ein paar Tage, sondern so lange, bis ihr euch richtig erholt habt. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Und das geht nur in einer Auszeit. Würde Jesus heute leben, hätte er solche Worte für seine Jünger mit Sicherheit gefunden.

Auszeiten sind immer auch eine Reise zu uns selbst, eine Antwort auf unsere tiefsten Wünsche, Sehnsüchte und Ängste. Das kann manchmal richtig wehtun. Ich nehme mir einmal im Jahr eine Woche Zeit, um komplett in die Stille zu gehen und glaube, dass wir Menschen so eine Ruhe brauchen, um auf seiner Spur zu bleiben und so zu leben, wie Gott uns gemeint hat …
Aus der Erfahrung mit diesen Zeiten des Schweigens ist mir ein Gebet des Schweizer Bauern, Ratsherrn und Mystikers Nikolaus von Flüe aus dem 15. Jahrhundert sehr lieb geworden. Es heißt:

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und mach mich ganz zu eigen Dir.

Musik: A. Vivaldi – "Concerto grosso" a-Moll op. 3 Nr. 8 Allegro

Und was ist nun mit meinem Reiseführer, der blitzblank und neu neben mir liegt? Ich stöbere ein wenig darin herum. Ein paar Tage wandern, ach ja, das wäre schön! Die Seele wirklich mal baumeln lassen, Orte und Augenblicke der Stille erleben, von ringsum erholt in die Normalität zurückkehren. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich im Grunde, dass ich dafür nicht unbedingt auf große Fahrt gehen muss. Vielleicht ist das ja morgen wieder anders und mein Reiseführer doch dran. Ich bin gespannt.
In einem Augenblick des bewussten Abstands zu den Dingen des Tages lässt sich Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden, ohne dabei einen guten Schluck, einen doppelten Espresso oder ein Gespräch mit lieben Menschen zu vergessen. Beides lässt sich oft sogar besser unter einen Hut bringen als es zu trennen. Gott hat mit Sicherheit nichts dagegen! Wir alle sind eingeladen, beides als sein Geschenk zu begreifen! Der Umgang mit Schweigen ist nicht jedes Menschen Sache. Es ist ja bewusst oder unbewusst ohnehin Teil unseres Daseins. Verleben Sie auf Ihre ganz eigene Weise wunderbare Ferien. Mit oder ohne Reiseführer. Mit oder ohne bewusstes Schweigen. Gott hat seine Hand über beidem …

Musik: J. Haydn – "Finale-Presto" aus dem Streichquartett B-Dur op 1

Musikauswahl: Thomas Wiegelmann, Bad

 

 

 

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