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Dr. Barbara Brüning
Ein Beitrag von Dr. Barbara Brüning, Katholische Journalistin, Autorin und Systemische Familienberaterin, Frankfurt
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Der Unterschied zwischen arm und reich ist eine der wichtigsten Ursachen für die Spaltung unserer Gesellschaft – das jedenfalls glauben die Hessen und Hessinnen.  Ich muss bei diesem Thema an ein Video denken, das mir ein Freund geschickt hat. Da ist ein Mädchen zu sehen, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Gut gekleidet steht es etwas verloren auf einer belebten Kreuzung. Passanten bleiben stehen und fragen, ob sie dem Mädchen helfen können.

Es stellte sich heraus, dass das ganze eine Art Experiment war: Kurz darauf ist dasselbe Mädchen zu sehen: jetzt ist sein Gesicht schmutzig, es trägt zerrissene Kleidung. Passanten gehen an ihm vorbei, ohne es weiter zu beachten.

Mich hat dieses Video sofort in eine Szene zurück katapultiert: Vor ein paar Jahren war ich im Urlaub auf Sardinien. Auf einem herrlichen Platz habe ich mit meinem Mann morgens zum Frühstück vor einem kleinen Café gesessen. Ein kleines Mädchen kam vorbei. Es war schmutzig und barfuß. Es hat die Hand aufgehalten und wollte Geld. Und es hat auch nach dem Brötchenkorb geschielt. Wir haben sie weggeschickt ohne etwas zu geben. Mir geht das bis heute nach. Wir wollten nicht unterstützen, dass Kinder zum Betteln schickt werden. Aber trotzdem, sagt dann eine Stimme in mir: es wäre eine Möglichkeit gewesen, diesem Kind für einen Moment das Gefühl zu geben, in Ordnung und Willkommen zu sein.

Ich weiß inzwischen von obdachlosen Menschen, dass es sie am meisten verletzt, dass sie einfach nicht mehr angesehen werden. Ihnen fehlt die Begegnung von Mensch zu Mensch. Wenn ich aber jemandem freundlich und herzlich begegne, dann fühlt er sich wertvoll. Und mit diesem Selbstwert kann schon etwas in Bewegung kommen.

Inzwischen gebe ich Menschen, die mich um etwas bitten, immer etwas. Und ich sehe sie dabei an. Ich denke, dass solche Begegnungen zeigen, dass wir uns gegenseitig wahrnehmen und zusammen gehören. Und jede dieser Begegnungen trägt dazu bei, dass wir uns als Gesellschaft nicht spalten lassen – dass die Kluft zwischen arm und reich ein Stückchen kleiner wird.

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