Feigen für Rosch-Haschana
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Feigen für Rosch-Haschana

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Miriam schaut mich an.
Wir sitzen in meinem Lieblingscafé. Sie nimmt einen Schluck von ihrem frischen Minztee.
Dann sagt sie: „Weißt du, es ist immer das Gleiche. Sobald es um meinen Glauben geht, kneife ich. Ich rede mit den Leuten über alles Mögliche. Aber ich rede fast nie darüber, dass ich jüdisch bin. Dabei ist mir das wirklich wichtig. Aber das ist einfach so drin.“

Ich schaue Miriam an. Wir kennen uns erst seit wenigen Jahren. Ich genieße unsere Treffen sehr. Sie sind zwar eher sporadisch, so ein, zwei Mal im Jahr, aber jedes Mal intensiv.

Miriam trinkt noch einen Schluck. Dann stellt sie den Tee wieder auf den Tisch. Ihre Hände umschlingen das Teeglas, während sie weiterredet:
„Im September, da gab’s eine Situation, da dachte ich: Jetzt mach’s doch einfach mal. Was soll schon passieren? Es war im September, genau das Wochenende vor Rosch-Haschana, unserem jüdischen Neujahrsfest. Traditionell essen wir da Feigen – Früchte, die man in der Saison noch nicht gegessen hat. Das können auch Datteln oder Trauben sein. Jedenfalls bin ich zum türkischen Gemüsestand gegangen und hab gesagt: ‚Ich nehme bitte 6 von den Feigen.’ Und wie immer hab ich zuerst natürlich nicht gesagt, wofür die Feigen waren. Der Gemüsehändler packte mir die Feigen vorsichtig in eine Papiertüte. Und dann sprudelte es einfach aus mir raus“, erzählt Miriam.

„Ich sagte ihm: ‚Wissen Sie, die sind für Rosch-Haschana, das jüdische Neujahrsfest. Wir haben im Judentum da den Brauch Früchte zu essen, die wir das ganze Jahr über noch nicht gegessen haben. So wie eben Feigen.’“

Miriam erzählt, wie überrascht der Gemüsehändler geguckt hat.
„Du glaubst nicht wie er da plötzlich gestrahlt hat. Er wollte alles wissen. Ob da die Familie zusammenkommt und was wir noch so essen, und ob wir auch zusammen beten.
Wir haben uns richtig lange unterhalten, der türkische Gemüsehändler und ich. Und dann hat er mir noch zum Abschied eine Feige geschenkt. Da waren es dann sieben Feigen. Sieben ist ja für uns im Judentum eine heilige Zahl. Das steht für Vollkommenheit. Mit der Papiertüte in der Hand bin ich dann nach Hause gelaufen. Ich war total glücklich.“

Miriams Augen glänzen. Sie ist noch ganz ergriffen von der Begegnung mit dem Gemüsehändler, auch viele Wochen danach.

Auch mich berührt die Geschichte.
Erschreckend finde ich daran: Eine Jüdin wie Miriam hat auch heute noch – über 70 Jahre nach dem Ende des Holocaust – das Gefühl, dass sie ihren Glauben in Deutschland nicht ganz offen leben kann.
Faszinierend finde ich, wie eine Begegnung im Alltag alles verändern kann. Der Mut, mit dem Miriam einfach von ihrem Glauben erzählt hat. Das ist ansteckend, finde ich.

Vielleicht ist heute ein guter Tag, um das mal auszuprobieren. Miriams Worte sind noch im Kopf: „Jetzt mach’s doch einfach mal. Was soll schon passieren?“

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