Im richtigen Licht betrachtet
Mit Freunden war ich zu Besuch in der Tropfstein-Schauhöhle in Breitscheid im Westerwald. Tief in der Erde erschließt sich dort eine zauberhafte Höhlenwelt. Es ist das größte Höhlensystem Hessens. 12 Kilometer sind entdeckt. Davon kann man sich eine kurze Strecke anschauen. Was man da alles zu sehen bekommt, ist atemberaubend. Bizarre Tropfsteine hängend und stehend, mal wie ein Vorhang, mal wie die prachtvollen Orgelpfeifen einer Kirchenorgel. Einige glänzen, andere sind seidenmatt. Sie sind in unendlicher Langsamkeit entstanden. Ein wahres Naturwunder. Für einen Augenblick waren wir die steilen 125 Stufen hinabgestiegen, um ihre Anmut zu bestaunen.
Als wir die Mitte der großen Halle erreichen, sagt der Höhlenführer: „Nicht erschrecken, für einen Augenblick werden Sie nun die Höhle so sehen, wie sie die letzten Zehntausend Jahre gewesen ist. In völliger Dunkelheit.“
Sagte es und schaltete das Licht aus. Sofort war es mucksmäuschenstill. Niemand regte sich. Nur das gelegentliche Tropfen des Wassers war weiterhin zu hören. Alles war immer noch genau da, wo ich es gerade noch gesehen hatte. Und doch: Mir und den anderen in der Besuchergruppe war mit einem Mal die Fähigkeit verloren gegangen, all diese Schönheit wahrzunehmen. Umso größer das Aha, als das Licht wieder eingeschaltet wurde. Nicht nur die Höhle mit ihren Tropfsteinen, auch die Gesichter der anderen Gruppenmitglieder waren auf einmal ein wunderschöner Anblick.
Ich habe mich gefragt: Wie wird Schönheit eigentlich sichtbar? Die wundervollen Tropfsteine in Breitscheid waren ja schon vor hundert Jahren da. Nur musste erst jemand kommen und sie entdecken, buchstäblich ins rechte Licht setzen. Ich glaube, das ist auch bei Menschen so. Jeder Mensch ist ein Naturwunder. Für jemanden, der sich aufmacht, jemanden wirklich kennenzulernen, kann ein Mensch wunderschön sein, auch wenn er es nach gängigen Maßstäben nicht ist.
Im 139. Psalm der Bibel finde ich diesen Gedanken wieder. Hier entdeckt ein Mensch: Gott sieht ihn an. Gott rückt ihn ins Licht. Und das, obwohl dieser Mensch einiges unternommen hat, seine Schattenseiten zu verbergen, davon erzählt der Psalm auch.
Er hat versucht, sich rauszureden. Aber er merkt: Das ist nicht die Lösung. Er ist mit sich selbst unzufrieden, er fühlt sich innerlich hässlich. So will er sich Gott nicht zeigen. Und dann entdeckt er: Gott ist anders. Er macht keinen Bogen um ihn. Gott kommt direkt auf ihn zu.
Schon aus der Ferne nimmt Gott den Menschen wahr. Er entdeckt hinter dessen Verhalten, was der Mensch selbst kaum sehen kann. Er bringt Licht ins Dunkel. Und Gott gefällt, was er sieht. Das bringt den Verfasser des Psalms zu der Einsicht: „Ich danke dir, Gott, dafür, dass ich wunderbar gemacht bin."
Das nehme ich als Herausforderung für diesen Tag an. Mich selbst im Licht Gottes sehen. Ja, die Falten der Nacht verbergen vielleicht etwas, dass da ein wunderschöner Mensch vor meinem Spiegel steht. Ein Mensch, dessen Schönheit strahlt, wenn er andere ermutigen kann, auch wenn er selbst mit seiner Schüchternheit zu kämpfen hat.
Die Begebenheit in der Höhle erinnert mich daran: Schönheit hängt nicht davon ab, dass ich sie selbst immer sehe. Manchmal muss erst einer kommen, der mit seinem Licht enthüllt, was bis dahin verborgen war.